Kathrin Passig

Dieser Text erschien unter einem Titel, den ich noch rausfinden werde, 2007 im Ebay-Magazin.

Zu Anfang dieses Jahrtausends, vergesslicheren Lesern wird es schon wieder entfallen sein, ging es der Internetbranche vorübergehend nicht so gut. "Vorübergehend" bedeutet dabei "über fünf Jahre lang", und mit "nicht so gut" ist gemeint, dass man nett zu den Riesentelefonen sein musste, die in Fußgängerzonen Flyer verteilten, denn in den Schaumgummikostümen steckten die eigenen Freunde. Ich hielt mich währenddessen mit Schmuckverkauf bei eBay über Wasser und bewahrte unter meinem Schreibtisch eine Plastiktüte mit Perlenketten und Diamanten auf, Eigentum eines Großhändlers, der keine Lust hatte, sich selbst um eBay-Verkäufe zu kümmern.

Dass der von Marx beschriebene Gebrauchswert und Tauschwert der Waren im Schmuckbusiness nicht unbedingt die engsten Nachbarn sind, wusste ich schon von meinem Freund H., der früher für denselben Händler Preisetiketten beschriftet hatte. Eines Tages war er vom Abnehmer, einem Juwelier, gebeten worden, doch gleich den Endverkaufspreis anstelle des Großhandelspreises auf das Etikett zu schreiben. Auf die Frage, wie sich dieser Preis berechne, erklärte der Juwelier: "Ach, ich nehm immer einen Kugelschreiber in der gleichen Farbe und schreib vorn eine Eins oder hinten eine Null an den Großhandelspreis."

Ähnlich überrascht wie H. betrachtete auch ich die Diskrepanz zwischen dem Einkaufspreis der Schmuckstücke laut Rechnung und dem beigelegten Wertgutachten. Zunächst ging ich davon aus, der Schmuckgroßhändler besitze wohl Fotos, die den Wertgutachter in verfänglichen Posen mit minderjährigen Elektrogeräten zeigten, so dass der arme Mann ihm wohl oder übel die abwegigsten Preise bescheinigen musste. Aber schon nach wenigen Wochen im Schmuckgeschäft wurde ich weiser. Ich erkannte, dass der Arbeits- und Materialwert selbst der diamantenstarrendsten Geschmeide sich zwar in einem überschaubaren Rahmen bewegt, es aber eine allgemeine Übereinkunft der Kunden gibt, was Schmuck zu kosten hat - nämlich viel, viel mehr. Wer seiner Freundin eine Perlenkette kauft, der möchte, dass die Kette fünftausend Euro kostet, denn ein fünftausend Euro teures Geschenk beweist ganz klar zehn Mal so viel Liebe wie ein fünfhundert Euro teures. Die Schmuckbranche tut den Käufern gern diesen kleinen Gefallen und malt die fehlende Null aufs Preisetikett. Nach dem Soziologen Thorstein Veblen nennt man dieses Phänomen den "Veblen-Effekt": Luxusgüter finden erst dann Käufer, wenn sie teuer genug sind. Meine eBay-Ware wurde nicht etwa deshalb gern gekauft, weil sie etwas günstiger war, sondern weil die Käufer den Schmuck für gestohlen hielten.

Leider bestanden die meisten Käufer auf persönlicher Besichtigung oder Abholung, hatten aber von Perlenketten noch weniger Ahnung als durchschnittliche Mollusken. Ich mochte die Frage "Die Perlen sind ja ganz schwarz, sind die gebraucht?" nicht mehr hören und suchte mir einen neuen Beruf, einen, in dem man praktisch nie Menschen begegnet, die teuren Schmuck tragen. Und das ist auch gut so, denn wer seine neue, fünftausend Euro teure Perlenkette ausführt, möchte gar nicht so gern über den Veblen-Effekt aufgeklärt werden, wie ich immer dachte.