Kathrin Passig

Henkelloses Denken

(Beitrag für den Tagungsband zu "Was können wir dafür? - Ein Diskurs über Kultur als gesellschaftliche Instanz" der Bundesakademie Wolfenbüttel am 29./30. Juni 2010)

Ich bin eine Instanz wider Willen, oder vielleicht besser: eine Instanz aus Versehen. Eigentlich ist das Instanzendasein ja ganz angenehm, man wird zum Beispiel von der Bundeskulturakademie eingeladen und auch sonst nach seiner Meinung zu allen möglichen Themen befragt. Herr Ermert hat meine Anwesenheit in dieser Runde damit begründet, dass ich was vom Internet verstehe. Das ist nicht ganz richtig, denn vom Internet verstehen viele was, und auch ich selbst hatte schon vor fünfzehn Jahren viel darüber zu sagen und bekam doch keine Einladung nach Wolfenbüttel.

Herr Ermert wüsste nicht von meiner Existenz, wenn ich nicht 2006 bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hätte. In seinem Einladungsschreiben heißt es, ich hätte "die Regeln des literarischen Spiels unterlaufen" und sei mit "allen Regeln des Kulturbetriebes" vertraut. Das ist die dezent formulierte Version eines Missverständnisses, das damals aus verschiedenen Gründen in die Welt geriet und seither ein Eigenleben führt: Ich hätte mit einem extra darauf zugeschnittenen Text und der Hilfe der Zentralen Intelligenz Agentur, deren Geschäftsführerin ich damals war, "den Wettbewerb unterwandert" und die Klagenfurter Juroren "vorgeführt". Das stimmt nicht, und das geht natürlich auch gar nicht. Selbst wenn es ginge, wäre ich die Falsche dafür gewesen, denn ich halte die Tage der deutschsprachigen Literatur nicht für unterwanderungsbedürftig. Aber das Bedürfnis der berichterstattenden Medien nach einem Gegner für die Institution Klagenfurt1 war groß, denn die traditionelle Klagenfurt-Erzählung enthält den Autor als Opfer und einen siebenköpfigen Jurydrachen als Täter. Wenn der Autor einen schlechten Text mitbringt, ist immer noch die Jury schuld, schließlich hat sie ihn in ihrer fehlenden Urteilsfähigkeit eingeladen, ja, sie befördert womöglich aktiv das Entstehen solcher schlechter Texte durch ihre falschen Präferenzen. Womöglich hätte der Autor ganz anders und viel besser geschrieben, wenn nicht "der Betrieb" wäre!2

So kam es, dass ein geringfügiger Anlass genügte, um aus dem Nichts eine Instanz entstehen zu lassen. Diese Instanz war mal ich, mal die Zentrale Intelligenz Agentur, in jedem Fall hatte es irgendjemand der Jury oder dem Literaturbetrieb gezeigt. Dieser Exkurs dient nicht nur der Erklärung meiner Anwesenheit in Wolfenbüttel. Er zeigt auch, wie eine Instanz quasi von allein entstehen kann, wenn das Verlangen nach ihr groß genug ist. Das Loch im Baum ruft das Eichhörnchen herbei.

Entsteht auf diese Art eine unnütze Truginstanz? Oder ist das der Lauf der Dinge, die Fehlbesetzung spielt keine große Rolle, und der Kaiser regiert nackt auch nicht schlechter als angezogen? Die Legende jedenfalls war ohne weiteres Zutun meinerseits in der Klagenfurtberichterstattung 2010 noch ganz gut im Geschäft.

Dabei handelt es sich nicht um ein spezifisches Problem des Journalismus. Der Mensch ist generell kein Freund komplexer und uneindeutiger Sachverhalte. Er konstruiert gern Henkel, an denen sie sich leichter anfassen lassen. Das können Personennamen sein, Firmennamen, aber auch vage Oberbegriffe wie "Literatur", "der Kulturbetrieb" oder "die Internetcommunity". So lange solche Notationshilfen nicht mit beobachtbaren Konstrukten verwechselt werden, ist alles in Ordnung.

Aber natürlich passiert genau das ständig. Ist die Instanz erst einmal da, führt sie ein Eigenleben. Sie hindert nicht nur diejenigen am genaueren Hinsehen und selbstständigen Denken, die das Gebilde von außen wahrnehmen, sie stört auch ihre Bewohner bei der Arbeit. Das hat nur am Rande damit zu tun, dass Medien dieselben Instanzen, die sie selbst errichtet haben, kurze Zeit später mit demselben Vergnügen wieder einreißen. Vor allem aber wird es schwerer, innerhalb des Instanzen-Exoskeletts noch einen halbwegs interessanten Gedanken zu fassen. Wer über ein Minimum an ökonomischem und Aufmerksamkeitskapital verfügt, riskiert durch weitere Bewegungen eine Verschlechterung der Lage und neigt daher zum intellektuellen Stillhalten. Nur wenigen gelingt es, sich immer wieder neue Gehäuse bewohnbar zu machen wie Reinhold Messner, der als Felskletterer, Extrembergsteiger, Langstreckenwanderer und schließlich als Politiker Erfolg hatte.

Aber ich bin nicht nur als versehentliche Instanz eingeladen, sondern auch, um etwas über das Internet zu sagen. Hier gibt es Aussichten auf Bändigung der Instanzennachteile. Nicht dass das Internet in dieser Hinsicht ein utopischer Ort wäre; auch im Netz gibt es genügend Beispiele für Strukturen, die sich auf unpraktische Weise verselbstständigen, etwa die Wikipedia-Administration oder die Organisationsform der Piratenpartei. Vielversprechend ist aber der Ansatz, Struktur und Inhalt so weit wie möglich voneinander zu trennen, sie quasi in unterschiedliche Gehege zu sperren, damit nicht eins das andere auffrisst.

Eine Möglichkeit, den Einfluss der Instanzen zu reduzieren, ergibt sich aus dem Trend zur Disintermediation ("cutting out the middle man"). Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die US-Website kickstarter.com, mit deren Hilfe Künstler, Musiker, Autoren, Veranstalter oder Programmierer für Kulturprojekte aller Art das Geld privater Spender einwerben können. Im Mai 2010 sammelten vier amerikanische Studenten auf diesem Weg statt der 10.000 Dollar, die sie für ihre Arbeit an einem "besseren Facebook" verwenden wollten, über 200.000 Dollar ein.3 Allerdings scheinen sich die Einzelteile ehemals komplexerer Systeme gar nicht so sehr nach Selbstständigkeit zu sehnen; stattdessen streben sie danach, sich in neuen Kombinationen zusammenzuschließen. Wo alte Vermittler wegbrechen, die Buchhandlung oder das Reisebüro etwa, füllen neue Anbieter wie Amazon oder Reiseportale die entstehenden Lücken. Und natürlich wird die Welt nicht automatisch zum besseren Ort, nur weil die Zahl der institutionsförmigen Instanzen ab- und die der personenförmigen zunimmt.

Fortschritte sind insofern erkennbar, als es allmählich möglich wird, Instanzenstatus ohne Marketing und Aufmerksamkeit ohne Instanzenstatus zu erlangen. Der britische Wissenschaftsjournalist Ben Goldacre beschrieb im August 2010 in seinem Blog ein relativ neues Phänomen: "Ich finde Musik durch last.fm4, Blogs, über Youtube-Links neben anderen Sachen, die mir gefallen, und durch diverse andere Verfahren, bei denen ich meinen Interessen und meiner Nase folge. Inzwischen ist es meistens so, dass ich (...) keine Ahnung habe, wie berühmt die Musiker sind. Vielleicht höre ich irgendein obskures Privatprojekt, vielleicht die größte Band auf XFM5, ich weiß davon nichts." Ähnliches ist bei Twitter zu beobachten, wenn Nutzer jemandem folgen, weil dessen Mitteilungen sie interessieren, dabei aber nicht unbedingt feststellen können, ob es sich um einen außerhalb des Netzes oder auch nur der twitternden Kreise etablierten Prominenten oder um einen unbekannten 16-Jährigen handelt. (Anders bei Facebook, wo diese Informationen durch Realnamen und Profilseite nicht zu übersehen sind.) Diese Entwicklung wird mittelfristig zu einer Verteilung der Aufmerksamkeit auf mehr Instanzen führen, die jeweils weniger Einfluss ausüben.

Auch nach relativ selbstständigen Entdeckungen wie den von Ben Goldacre beschriebenen bleibt die Versuchung, sich bei weiteren Entscheidungen auf Namen statt auf Inhalte zu stützen. In Onlinegemeinschaften entstehen nach kürzester Zeit neue Autoritäten, deren Ansehen und Privilegien nicht mehr auf der Nützlichkeit ihrer Beiträge, sondern auf ihrer Alteingesessenheit beruhen. In letzter Konsequenz bräuchte man zur Eindämmung des Instanzenunwesens vollständige Nutzeranonymität. (Das bedeutet auch den Verzicht auf wiedererkennbare Pseudonyme.) Derzeit existieren solche Angebote, in denen sozialer Status mit jedem Beitrag neu erarbeitet werden muss, nur in wenigen Bereichen des Netzes6, und auch dort ist die Anonymität eher ein Nebeneffekt technischer und rechtlicher Einschränkungen. Die Kurzlebigkeit der meisten Internetangebote gleicht das Problem der Instanzenbildung in nicht-anonymen Foren wieder aus. Onlinegemeinschaften entstehen und vergehen, und nur selten lässt sich das an einem Ort erwirtschaftete soziale Kapital an einen anderen hinüberretten.

Das Tagungsformat Barcamp macht sich diesen Vorteil der Kurzlebigkeit explizit zunutze. Es wird im Netz organisiert — üblicherweise in einem Wiki, also einer Website, die jeder Teilnehmer ändern kann. Wer sich dafür zuständig fühlt, kündigt die Veranstaltung mit einer Vorlaufzeit von einigen Wochen oder Monaten über Blogs und soziale Netzwerke an. Vortrags- und Workshopthemen werden am Morgen jedes Veranstaltungstages festgelegt, die Referenten rekrutieren sich selbst aus dem Publikum. Das Verfahren hat zwei wesentliche Vorteile: Die Referenten müssen nicht erst auf ihre Ernennung zur Instanz warten, um als Vortragende eingeladen zu werden; neu auftauchende Themen können daher auf Barcamps frühzeitig behandelt werden. Vor allem aber existiert die Veranstaltung nur in einem relativ kurzen Zeitraum. Danach verschwindet sie, und im Idealfall bleiben keine Überreste, die sich verselbstständigen und der Welt zur Last fallen könnten. Als Teilnehmer kann man sich nicht auf Instanzen wie einen etablierten Ort, einen bewährten Veranstalter oder auch nur einen bekannten Namen der Veranstaltung verlassen. Alles, was bleibt und als Grundlage für künftige Teilnahmeentscheidungen dienen kann, ist das Format.

Ein Instanzenhenkel bietet dann Vorteile, wenn es eine Informationsasymmetrie zu Ungunsten des Konsumenten gibt. In Abwesenheit anderer Informationen über ein Produkt erzielt der Käufer bessere Ergebnisse, indem er sich an Markennamen orientiert. Diese Informationsasymmetrie aber ist ein aussterbendes Problem. Es ist nicht mehr das Fehlen von Informationen, das Entscheidungen erschwert, sondern eher deren Überfülle. An dieser Stelle kommt der Filter als neues Orientierungshilfsmittel ins Spiel. Intelligente Empfehlungsalgorithmen7 sind dabei, Buch-, Film- und Musikrezensionen in ihrer Funktion als Kaufberatung zu verdrängen, kommen zunehmend auch bei allgemeinen Suchmaschinenanfragen zum Einsatz und werden sich mittelfristig in vielen Lebensbereichen ansiedeln. Sie vergleichen dazu das Verhalten des Nutzers mit dem anderer Menschen mit ähnlichen Vorlieben, versuchen automatisch Ähnlichkeiten zwischen Produkten zu bestimmen, ziehen die Präferenzen der Freunde eines Nutzers heran oder kombinieren mehrere Verfahren. Eine solche Empfehlungs-Instanz kann - je nach Qualität des Filters - sehr zuverlässig und sehr mächtig ausfallen; gleichzeitig folgt jeder Konsument dabei seinen individuellen Ratgebern. Die einzige Gemeinsamkeit dieser privaten Instanzen ist der zugrundeliegende Algorithmus.

Eine Schwächung des Instanzenkultes ist vor allem für diejenigen interessant, denen es noch an Status fehlt und die dort leichter Gehör finden, wo Namen keine große Rolle spielen. Aber Barcamps locken auch Sprecher an, die ansonsten für ihre Konferenzbeiträge bezahlt werden, medizinische Studien und wissenschaftliche Veröffentlichungen werden nicht selten doppelblind begutachtet. Auch etablierte Instanzen möchten gern um ihrer aktuellen Leistung willen geschätzt werden und nicht aufgrund glücklicher Zufälle, längst vergangener Taten oder der Anstrengungen ihrer Marketingdienstleister. Das kann zu unerwarteten Ergebnissen führen wie im Falle des US-Violinisten Joshua Bell, der 2007 anonym in einem Washingtoner U-Bahnhof sechs Stücke auf seiner Stradivari spielte. Der im Vorfeld interviewte Leiter des National Symphony Orchestra, Leonard Slatkin, hatte prophezeit: "Das bleibt nicht unbemerkt. In Europa wäre das Publikum sicher größer ... aber ich würde sagen, von 1000 Passanten werden 35 oder 40 seine Qualität erkennen. 75 bis 100 bleiben stehen und hören zu." Tatsächlich blieb so gut wie niemand stehen; Bell nahm in 42 Minuten 32,17 $ ein. Das ist natürlich ein extremes Beispiel; klassische Musik zeitigt in der Blindverkostung ähnlich desillusionierende Ergebnisse wie Wein und andere Güter von hohem symbolischem Wert. Auf anderen Gebieten mag es leichter sein, die Aufmerksamkeit eines unvoreingenommenen Publikums zu wecken. Neben dieser Sehnsucht nach "redlich verdienter" Anerkennung bringt eine Rückkehr zur Anonymität den Vorteil nützlicheren Feedbacks und schließlich größerer Motivation mit sich: Wenn es einmal soweit ist, dass das Publikum dem Künstler auch signierte Einkaufszettel abkaufen würde, ist das der Qualität seiner Arbeit nicht zuträglich.

Als Autorin lebe ich von meinem Instanzenstatus, den ich zum Teil dem glücklichen Zufall, zum Teil den Marketinganstrengungen meines Verlages und nebenbei auch meinen Texten verdanke. Für dieses Problem gibt es, zumindest was den Buchmarkt betrifft, derzeit noch keine Lösung. Ein Autor kann sich kaum mit jedem Buch neu auf dem Markt etablieren und beweisen. Sein Anteil an den Einnahmen gedruckter Bücher ist zu gering, als dass er von dem Publikum leben könnte, das seine Bücher ohne Nachhilfe durch Verlagsmarketing erwerben würde. Der Leser wiederum kann beim Kauf noch gar nicht beurteilen, ob ihm ein Buch überhaupt zusagen wird und ist daher weitgehend auf vorangegangene Erfahrungen mit Autor oder Verlag angewiesen. Beides mag sich in naher Zukunft durch neue Veröffentlichungswege ändern, derzeit aber verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit der Instanzengläubigkeit anderer Menschen. An dieser Stelle könnte ein viel gründlicher durchdachter Text von jemandem stehen, dem noch kein Instanzenstatus zuteil geworden ist. Das tut mir leid, aber - um auf den Titel der Veranstaltung zurückzukommen - ich glaube, ich kann nichts dafür.

1 Der Status des Klagenfurter Wettbewerbs hat zwei einfache ökonomische Gründe: Der Hauptpreis ist für Literaturverhältnisse hoch dotiert, und die Veranstaltung wird in mehrtägiger Länge im Fernsehen übertragen. Die Tage der deutschsprachigen Literatur haben viele andere Vorzüge; für ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit aber zählen im Wesentlichen diese beiden.

2 Natürlich ist auch das wieder die grobe Vereinfachung und Nacherzählbarmachung eines komplexeren Sachverhalts. Eine andere Version lautet: Wenn jemand, der sich vorher nicht literarisch bemerkbar gemacht hat, einen angesehenen (siehe 1) Literaturpreis gewinnt, dann ist dieser Vorgang erklärungsbedürftig. Er verletzt eine gängige Vorstellung, wie Literatur zu funktionieren hat. Man kann diesen Widerspruch durch Nachdenken aufzulösen versuchen, man kann aber auch einfach zu dem Schluss kommen, es habe sich um Betrug gehandelt.

3 Dass in der Folge tatsächlich ein "besseres Facebook" entsteht, ist unwahrscheinlich. Der dringende Wunsch des Publikums nach einem Facebook-Herausforderer hat aus dem Nichts eine Instanz erschaffen. Für die Arbeit der vier Initiatoren dürfte sich dieser neue Status eher als hinderlich erweisen.

4 Das 2002 gegründete Internetradio last.fm ist eins der ältesten "lernenden" Musikangebote im Netz. Durch ständigen Vergleich der Vorlieben und -abneigungen des Hörers mit denen anderer Nutzer generiert es neue Vorschläge. So entsteht ein Empfehlungskanal, der die herkömmlichen Möglichkeiten wie Rezensionen und Tipps aus dem Freundeskreis ergänzen oder ersetzen kann.

5 Ein britischer Radiosender.

6 Namentlich der Imageboards, ursprünglich aus Japan stammender Bildertausch- und Diskussionsforen. Große Imageboards zählen zu den meistbesuchten Seiten im Internet, so entstehen etwa im japanischen 2channel mehrere Millionen Beiträge pro Tag. Aus einem solchen Imageboard, dem amerikanischen 4chan, ging das Kollektiv Anonymous hervor, ein klassisches Beispiel dafür, wie noch das ausdrücklich strukturloseste Gebilde wieder einen Henkel bekommt, mit dessen Hilfe man es fassen und personifizieren kann: eben "Anonymous": de.wikipedia.org/wiki/Anonymous_(Kollektiv)

7 Empfehlungsalgorithmen kommen z.B. beim bereits genannten Internetradio last.fm, aber auch bei Amazon und vielen anderen Anbietern zum Einsatz. Am bekanntesten ist der Algorithmus des Online-Filmverleihs Netflix, für dessen Verbesserung 2006 der mit einer Million US$ dotierte "Netflix Prize" ausgeschrieben und 2009 auch verliehen wurde.