Kathrin Passig

Musik, bei der mein Vogel komische Geräusche macht (erschienen am 22.4.2007 in der FAS)

Bei den einen passiert es schon mit zwanzig, bei den anderen erst mit vierzig, aber irgendwann kommt für die meisten Menschen der Zeitpunkt, an dem das Interesse an neuer Musik erlahmt. Anhand von CD-Regalen und MP3-Sammlungen lässt sich der Beginn des Syndroms bis auf einige Jahre genau diagnostizieren. Zwar kaufen die Betroffenen weiterhin CDs und kopieren Musik, aber dabei handelt es sich vorwiegend um die neuen Alben derselben Bands wie vor zehn Jahren. Nicht einmal Berufsmusiker sind gefeit vor der schleichenden Krankheit. Smudo ("Die Fantastischen Vier") gab kürzlich in der FAS zu Protokoll: "Ich höre im Allgemeinen wenig aktuelle Musik. Ich identifiziere mich nicht mehr so damit, und die meisten Sachen, auch international, finde ich ziemlich langweilig. Themenarm, auch instrumentell stagniert es ..." Was hier stagniert, ist sicher nicht die Musikgeschichte, sondern das Interesse des Hörers. Denn die intensive Beschäftigung mit Musik kostet Zeit, Zeit ist für die meisten über 30-Jährigen ein knappes Gut, und das Medium, das einen nebenbei über neue Entwicklungen auf dem Laufenden halten könnte, das Radio, beschäftigt sich stattdessen mit Musikformaten, die den kleinsten gemeinsamen Nenner bedienen. Wer sich vom Radio Hinweise auf neue Musik erhofft, die ihm gefallen könnte, der sucht auch auf Müllkippen nach zufällig weggeworfenen mittelalterlichen Handschriften. Und da das gleichaltrige Umfeld vor denselben Problemen steht, fällt auch die Weitergabe von Musiktipps im Freundeskreis nach und nach weg.

Wo aber die Namen auf den Musikzeitschriften fremder und fremder werden, da wächst das Rettende auch: Ein wesentlicher Bestandteil des "Long Tail", also der neuen finanziellen Einträglichkeit von Nischenprodukten, die via Onlinevertrieb erstmals ihr Nischenpublikum finden, ist die kollaborative Filterung. Solche Filter - also aus den Vorlieben und Abneigungen anderer Nutzer automatisch erzeugte individuelle Empfehlungen - stehen hinter den Amazon-Buchempfehlungen, den Vorschlägen des DVD-Verleihs Netflix und dem Internetradio last.fm.

last.fm gewann - nach zahlreichen anderen Auszeichnungen - im Februar einen Lead Award als "WebLeader des Jahres" und wurde in der dazugehörigen Pressemitteilung als "Musikportal" bezeichnet, was ungefähr so präzise ist wie die Erklärung, beim Space Shuttle handle es sich um ein Fortbewegungsmittel. Tatsächlich ist last.fm das, was man sich bisher vergeblich anstelle des herkömmlichen Radios wünschte: ein selbstständig dazulernendes, individuelles Radioprogramm, das den Hörer nicht mit Moderatorengerede belästigt und ohne viel Aufwand den musikalischen Horizont erweitert. Die Nutzer trainieren ihr Radio, indem sie die laufenden Tracks mit "Love" oder "Ban" bewerten, was anfangs noch häufig, später immer seltener nötig ist.

Das Unternehmen, das heute über 40 Mitarbeiter beschäftigt, wurde Ende 2002 von Thomas Willomitzer, Felix Miller, Martin Stiksel und Michael Breidenbrücker gegründet, deutschen und österreichischen Studenten am Londoner Ravensbourne College of Design and Communication. Es waren schlechte Zeiten für IT-Startups, und die Entwickler lebten anfangs in Zelten auf dem Dach ihres Büros. 2005 verschmolz last.fm mit dem von Richard Jones entwickelten "Audioscrobbler"-Plugin, das aufzeichnet, welche CDs und MP3s auf dem eigenen Rechner abgespielt werden. Auf diese Art sammelt last.fm zusätzliche Informationen über die Vorlieben der Nutzer auch dann, wenn statt Radio selbstgewählte Musik gehört wird. Inzwischen gibt es Software von Drittanbietern, die per iPod-Synchronisation dafür sorgt, dass selbst die beim Fahrradfahren gehörte Musik ins last.fm-Profil einfließt. Geld verdient last.fm dabei auf verschiedenen Wegen: Durch Verkauf der (anonymisierten) Nutzungsdaten an die Musikindustrie, durch Affiliate-Links und durch Abonnements, wobei Abonnenten für drei Euro im Monat vorwiegend die gute Sache unterstützen. Wesentliche Vorteile im Vergleich zur Gratisversion gibt es nicht.

Gewöhnungsbedürftig ist zunächst die Tatsache, dass man als Nutzer Einfluss auf die im Radio gespielte Musik hat. Immer wieder ertappt man sich während der ersten Monate beim stillen Dulden, bis man begreift, dass man ja den leidigen Track mit der Wurzel ausrupfen kann. Ist dieser überraschend langwierige Lernprozess abgeschlossen, kommt es zum umgekehrten Problem, und der last.fm-Nutzer wird im Alltag vom Verlangen heimgesucht, bei Fahrradfahrten im Regen, Schlangestehen auf Ämtern oder Liebeskummer auf "Skip" oder "Ban" zu klicken. Der Nachteil dabei: Unaufmerksames Berieselnlassen birgt gewisse Gefahren. Wie ein Hund eignet sich das Radio schnell schlechte Angewohnheiten an, wenn man es zu wenig beaufsichtigt. Kaum dreht man dem sonst so folgsamen last.fm den Rücken zu, fängt es an, Bob Marley zu spielen, und wehe dem, der diese Tracks nicht rechtzeitig von Hand wieder aus dem Gedächtnis seines Radiosenders löscht. Er gilt für immer als Reggaefreund und wird von seinem Radio entsprechend behandelt. In besonders schweren Fällen hilft danach nur noch ein Neuanfang durch radikales Löschen aller gespeicherten Informationen.

Das fünf Jahre alte last.fm hat die ersten Kinderkrankheiten mittlerweile überwunden, vieles bleibt trotzdem verbesserungsfähig. Das "Personal Radio" glänzt nicht gerade durch Innovationsfreude und muss mit eiserner Hand regiert werden, wenn es Hörer, die anfangs eine Vorliebe für eine bestimmte Band geäußert haben, nicht zeitlebens nur mit anderen Stücken dieser Band sowie den naheliegendsten Nachbarkandidaten versorgen soll. Aber zum Glück gibt es viele Wege zu neuer Musik: Man kann die Radiosender unbekannter Geschmacksnachbarn oder ebenfalls angemeldeter Freunde hören oder sich über die "Similar Artists" immer weiter in neue, seltsame Welten vorarbeiten. Es gibt unzählige von Nutzern selbst vergebene Tags, also Radioprogramme nach Kategorien von "Pop" bis "Musik, bei der mein Vogel komische Geräusche macht". Ohne ein Mindestmaß an Eigeninitiative ist die musikalische Resozialisierung jedenfalls auch bei last.fm bisher nicht zu haben.

last.fm teilt das Problem der Amazon-Empfehlungen und der - von Teilen desselben Teams mitentwickelten - Buchempfehlungsplattform Lovelybooks: Titel, die von vielen Nutzern bevorzugt werden, werden zu stark gewichtet. Das führt dazu, dass jeder Amazon-Nutzer Harry Potter empfohlen bekommt und last.fm einem vorwiegend Nachbarn zuordnet, mit denen man sich in Mainstreamfragen einig ist. Dabei wäre es wesentlich hilfreicher, den einzigen anderen Menschen auf der Welt kennenzulernen, der sich ebenfalls für tasmanischen Maultrommelpop interessiert. Auch das ist via last.fm zwar machbar, aber nur auf Umwegen. Eine weitere Schwäche des Systems: Durch das Nutzerverhalten entstehen bei der Navigation via "Similar Artists" länderspezifische Zitierkartelle, aber nur selten Querverbindungen in ausländische Musiknetzwerke desselben Genres.

Wer den Musikmarkt aufmerksamer verfolgt, bemängelt, dass es zu lange dauert, bis neue Musik bei last.fm auftaucht. Tatsächlich brauchen viele Labels, darunter fast alle deutschen, ein bis zwei Jahre, um ihre Neuerscheinungen hochzuladen. Wenige Ausnahmen wie das Kölner Label Kompakt stellen ihr Angebot vollständig und zum Teil schon vor dem CD-Erscheinungstermin bei last.fm ein. Andererseits sind bei last.fm unzählige Kleinst- und Netlabels sowie "unsigned artists" vertreten, die man wiederum im herkömmlichen Radio nicht zu hören bekommen wird. Und die Lage bessert sich zusehends: 2007 wurden jeden Monat um die 4.000 Alben neu bei last.fm aufgenommen, im Februar gab Warner seinen Gesamtkatalog frei und ab 1. Mai kommen durch eine Vereinbarung mit dem Independent-Digitalvertriebsdienstleister IODA weitere 800.000 Titel kleiner - und damit für Distinktionsgewinnler interessanter - Labels hinzu.

Allerdings deutet manches darauf hin, dass für Anbieter und Nutzer individueller Empfehlungssysteme die schlichte Dienstleistung interessanter ist als der Distinktionsgewinn. Ohnehin fehlen bei last.fm, wenn man nicht explizit danach sucht, Informationen über den Bekanntheitsgrad oder Status einer Band; was zählt, sind nur die eigenen Vorlieben. Musikjournalismus hat sich zu einer hermetischen Kunstform entwickelt, die sich von ihrer ursprünglichen Funktion einer Kaufberatung so weit wie möglich zu distanzieren sucht: "Das eigentliche Interesse dürfte hier für viele aber wohl auf dem Sleeparchive Remix liegen, der den Schutzraum erst mal staubtrocken macht, die Basslines zwischen den Augäpfeln rollen lässt und sich auch sonst in einem Sound ergeht, der irgendwie langsam und genüsslich auseinander zu driften scheint, an gewissen Stellen aber immer wieder zeigt, wie konzentriert das Zucken zwischen Rauschen und Puls eigentlich ist." (Sascha Kösch in de:bug). Was nutzt es dem Hörer, wenn Thomas Meinecke im Zündfunk-Nachtmix vor und nach jedem Track versichert, dieser rare Fund sei in Deutschland bisher absolut nicht erhältlich? Wer bei last.fm hört, was ihm gefällt, bekommt Musiker und Titel automatisch in seine Privatdatenbank gespeichert, komplett mit Links zu CD-Versendern und Downloadanbietern. Aber das Hauptproblem des Musikjournalismus ist nicht seine mangelnde Dienstleistungsorientierung, sondern greift tiefer: Wie sinnvoll ist überhaupt die Vorstellung einer allgemeingültigen Musikempfehlung? Hat die Tatsache, dass Moderator X oder Rezensent Y eine CD gut oder schlecht findet, für Hörer Z irgendeine Relevanz?

Kollaborative Filter werden die klassische Kulturrezension nicht überflüssig machen, aber dass sie an Bedeutung gewinnen werden, steht außer Frage. Die Entwicklung weg vom Rezensionmainstream hin zu individuellen Geschmacks-Clustern hat erst begonnen, ebenso wie die Entwicklung weg vom Horten von Büchern, Musik und Filmen mit seinen unschönen Begleiterscheinungen hin zur Nutzung bei Bedarf. Und wer sich in seinem last.fm-Profil nickhornbyesk betätigen möchte, braucht nur seine Tags neu zu sortieren; den Rest des Nachmittags hat er frei. Zum Beispiel, um endlich mal die CD-Regale zum Sperrmüll zu tragen.