Kathrin Passig

Militär und Dekadenz (Merkur 700, 9/10 2007)

Als Samuel Johnson 1773, 27 Jahre nach der Schlacht von Culloden, durch Schottland reiste, fragte er sich sorgenvoll, ob Länder wirklich gut daran tun, sich ganz und gar dem Handel und dem Streben nach Glück zuzuwenden, oder ob man nicht wenigstens "in einem Teil des Reichs den kriegerischen Geist bewahren" sollte. Nun waren schon die jakobitischen Highlander bei Culloden trotz ihres reichlich vorhandenen kriegerischen Geistes gegen die technisch überlegene Regierungsarmee nicht gut gefahren. Trotzdem wird Johnsons natürlich schon damals nicht neue Frage, ob man sich um die Verteidigungsfähigkeit allzu zivilisierter Gesellschaften Sorgen machen muß, regelmäßig wieder aufgewärmt.

Die Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift beobachtete in ihrer Ausgabe vom Juli/August 2004 besorgt, daß "die sich pluralisierenden Wert- und Normvorstellungen der individualisierten Zivilgesellschaft und die militärisch funktionsnotwendigen Norm- und Verhaltensprofile auseinander driften". Aber sind diese Norm- und Verhaltensprofile so "militärisch funktionsnotwendig", wie man in der Schweiz und anderswo vermutet? Dagegen spricht zunächst, daß Soldaten vermutlich seit Erfindung des Militärs mit Besorgnis die Lebensgewohnheiten ihrer Nachfolgergenerationen betrachten.

Als der Journalist David Boroff 1963 noch einmal Fort Hood besucht, wo er 1943 seine Grundausbildung absolviert hat, fallen ihm die merkwürdig legeren neuen Uniformen und die Baseballcaps der Soldaten auf. Sogar Klimaanlagen gibt es! In den Aufenthaltsräumen stehen Fernseher und bequeme Sessel, in der Kantine gibt es Vierertische, Blumentöpfe und richtiges Geschirr anstelle von Essenstabletts. "Auch die Gemeinschaftsräume haben sich in zwei Jahrzehnten so deutlich verändert, daß Veteranen angesichts dieses neuen Militärs mit den Zähnen knirschen. (Es wirkte ironisch, daß mein Militär jetzt das alte Militär war, wo man doch zu meiner Zeit noch die Vorkriegsarmee mit denselben Augen betrachtet hatte)", schreibt Boroff in Harper's Magazine (Januar 1964).

Daß die Nachgeborenen es leichter haben, ist nicht immer einfach zu verdauen. Der im Bundeswehr-Folterskandal von 2004 angeklagte Hauptmann Ingo S. verteidigte sich vor Gericht damit, nachdem er sich selbst ein Bild von der Mißhandlung der Rekruten gemacht habe, sei er zu dem Schluß gekommen, früher selbst härter rangenommen worden zu sein. "Ich bin daher nicht auf die Idee gekommen, die Ausbildung zu unterbinden." Aber nicht nur zeitlicher Abstand, auch kulturelle Differenzen ziehen oft Staunen über die militärischen Disziplinvorstellungen anderer Menschen nach sich. Als Victor Klemperer im Mai 1945 seinem ersten amerikanischen GIs begegnete, notierte er: "Im übrigen machen die Amerikaner weder einen bösartigen noch einen hochmütigen Eindruck. Sie sind überhaupt keine Soldaten im preußischen Sinn. Sie tragen keine Uniformen, sondern Monteuranzüge, Overalls oder Overallähnliche Kombinationen aus hochreichender Hose und Bluse in graugrüner Farbe, sie tragen kein Seitengewehr, nur eine kurze Flinte oder einen langen griffbereiten Revolver, der Stahlhelm sitzt ihnen bequem wie ein Zivilhut auf dem Kopf, nach vorn oder hinten gerückt, wie es ihnen paßt. Unten an der Isar stand einer im Stahlhelm mit aufgespanntem Regenschirm, eine Kamera in der Hand — der Schirm schien für die Kamera dazusein. Marschieren habe ich noch nicht die kleinste Gruppe sehen: alle fahren — wie, das beschrieb ich schon." Und zwar so: "'Sitzen' stimmt nicht, sie fleetzen sich lässig vergnügt, irgendwo hängt immer ein langes Bein laatschig heraus, und ebenso laatschig liegt die linke Hand zum Anzeigen der Geradeausrichtung auf der Schutzscheibe". Tragen den Helm, wie es ihnen paßt! Regenschirme gar! Man hätte sich ernsthaft fragen müssen, wie man mit solchen Leuten einen Krieg gewinnen sollte, wenn das nicht bereits erledigt gewesen wäre.

Auch die Amerikaner selbst waren nicht gefeit vor baugleichen Überraschungen. Als der Militäranalytiker S.L.A. Marshall 1958 in Israel das Geheimnis der israelischen Militärerfolge zu ergründen versuchte, mußte er feststellen: "Schliff in der Bekleidung ist ein Ding der Unmöglichkeit, Schliff in der Haltung ein reines Lippenbekenntnis. Nach westlichen Standards fehlt es dieser Armee ... gänzlich an den äußeren Formen der Disziplin. Soldaten treten unrasiert an, ihre Haartracht sieht aus, als bestreikten sie den Friseur. Der Wachtposten kaut eine Orange, während er auf und ab patrouilliert. Offiziere tragen gestreifte Zivilistensocken zur Uniform." Gleichzeitig taucht in diesem Beitrag vom Oktober 1958 der Begriff "military discipline" zum letzten Mal in Harper's Magazine auf.

Aber es bleibt ja nicht dabei, die Verweichlichung des Militärs schreitet unaufhaltsam voran. Bei der alljährlichen Special Forces Conference der USA wurden 1999 neue Fertiggerichte für den Kampfeinsatz in Geschmacksrichtungen wie "Tortellini mit Meeresfrüchten" angekündigt, in Deutschland gibt es die "Kaserne 2000" mit reduzierter Bettenanzahl pro Stube, neuem Mobiliar und an die Stuben angegliederten Einzelsanitärräumen. Härte und Entbehrungsreichtum des militärischen Daseins sind also vermutlich relativ. Soldaten wird nicht wesentlich mehr zugemutet, als zur selben Zeit im selben Kulturkreis auch von Zivilisten ausgehalten werden muß. So weit, so naheliegend. Was ist, könnte man fragen, dagegen einzuwenden, daß sich das Militär als letzte Bastion der Härte gebärdet, um so Mitarbeiter zu rekrutieren und deren Selbstbild mit ein wenig kostenlosem Glitter zu versehen? Einiges, denn der Glaube an Härte und Heldentum in der Kriegsführung hat seine Kosten.

Eine der am besten dokumentierten Episoden der Verteidigung kontraproduktiver militärischer Ideale ist die Geschichte des Maschinengewehrs. Maschinengewehre waren seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verfügbar, aber Krieg galt als Frage der Disziplin und Entschlossenheit des einzelnen Soldaten, und mit dieser Vorstellung ließ sich das Maschinengewehr zunächst nur schwer vereinen. Es wurde als unmilitärische Spielerei abgetan, gerade gut genug, um damit in den Kolonien nackte Wilde in Schach zu halten. Erst nach mehreren Jahren Weltkrieg wurde um 1916 herum auch dem Letzten klar, daß Willenskraft und Tapferkeit gegen Maschinengewehrstellungen nicht viel ausrichteten. "Die Generäle konnten sich nicht mit dieser Macht (des Maschinengewehrs) abfinden", schreibt John Ellis. "Immer wieder warfen sie ihre Männer an die Front, voller Zuversicht, daß diesmal etwas mehr Vorbereitung, mehr Männer und eine zusätzliche Prise reiner Wagemut ausreichen würden, den Widerstandswillen des Feindes zu brechen. Sie begriffen einfach nicht, daß sie nicht gegen dessen 'Willen', sondern gegen seine Maschinengewehre kämpften."1 Fast 80 Prozent der Opfer des Ersten Weltkriegs gingen auf das Konto des Maschinengewehrs.

Ellis zitiert einen amerikanischen Journalisten, der 1863 über das Gatling-Maschinengewehr schrieb: "Die Soldaten können sich nicht damit anfreunden. Selbst wenn es nicht so anfällig wäre, hat es doch so wenig mit dem vertrauten Kampfgeschehen zu tun, hinter einer Stahlverkleidung zu sitzen und eine Kurbel zu drehen, daß der Enthusiasmus schnell nachläßt ... Es ist keine rechte Tätigkeit für Soldaten." Das Blatt der Berichterstattung wendete sich noch während des Krieges. Bald wurden auch MG-Besatzungen für die Tapferkeit ausgezeichnet, mit der sie hinter einer Stahlverkleidung gehockt und eine Kurbel gedreht hatten. Diesen Sinneswandel beschreibt Ellis als den "verzweifelten Versuch, neue Helden in einem Krieg zu schaffen, in dem Heldentum tatsächlich irrelevant war". Die Zeitungsleser wollten erfahren, daß es "das Heldentum und die innere Überlegenheit des Engländers war, die die Lage gerettet hatten, nicht eine Maschine, die viele hundert Schuß pro Minute abfeuern konnte".

Das Maschinengewehr war weder die erste noch die letzte militärische Innovation, der es so erging. Es dauerte immer wieder Jahrzehnte, bis die Vorbehalte gegen "feige", "unsportliche" Kriegstechniken überwunden werden konnten. In mitteleuropäischen Ritterheeren galten Bogen und Armbrust trotz ihrer erwiesenen Vorteile als unritterliche Jagdwaffen, Bogenschützen erhielten weniger Sold, weil sie sich einer Fernwaffe bedienten, anstatt den Zweikampf mit dem Schwert zu suchen. Die Mamelucken unterlagen 1516/17 gegen die Osmanen, weil die Osmanen über Feuerwaffen verfügten, die den Mamelucken zwar ebenfalls angeboten, aber als unedle Waffen abgelehnt worden waren. Das Florett galt bei seiner Einführung in England im Gegensatz zum noblen Schwert zunächst als grausames und feiges Instrument.

In England hielt sich wohl am längsten die Vorstellung vom Krieg als einer Art Sport, in dem bestimmte Praktiken einfach "not cricket" waren, was unter anderem zur Folge hatte, daß britische Soldaten im 19. Jahrhundert keine Ausbildung im Errichten defensiver Stellungen erhielten, weil es als unfein galt, sich zu verschanzen. Zur Zeit der britischen Indianerkriege in den USA geißelte man den Überraschungsangriff und das Ausnutzen natürlicher Deckung als Furchtsamkeit und mangelnden Kampfeswillen.

Demselben Sportsgeist entsprang die mindestens dreißig Jahre zu lang anhaltende irrationale Begeisterung für die Kavallerie, die der Militärstratege und -historiker Basil Liddell Hart auf "noble Taten auf dem Felde der Jagd und die Rolle des Pferdes in der Ausbildung junger Offiziere" zurückführt. Noch 1916 ritten die Briten Kavallerieattacken gegen deutsche MG-Stellungen, ohne daß die unausweichlichen hohen Verluste zu einem Umdenken führten. Im British Cavalry Training Manual von 1907 heißt es: "Wir müssen als Prinzip akzeptieren, daß das Gewehr trotz aller Effizienz nicht die Wirkung ersetzen kann, die die Geschwindigkeit des Pferdes, die mitreißende Wucht des Angriffs und den Schrecken des kalten Stahls hervorrufen." Es sollte bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein dauern, bis man sich endgültig von dieser Vorstellung lösen konnte. Als 1934 der Labour-Abgeordnete Tinker im britischen Parlament den Nutzen der Kavallerie anzuzweifeln wagte, fuhr ihm der konservative Brigadier Making über den Mund: "There must be no tinkering with the cavalry!" Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verteidigte sich Polen mit elf Kavalleriebrigaden gegen die Panzerdivisionen der Deutschen, und noch 1940 versuchte die französische 5. leichte Kavalleriedivision, in den Ardennen die Panzer der Deutschen aufzuhalten. In der Wikipedia heißt es zum Ergebnis lakonisch: "Die Kavalleriedivision erwies sich trotz des günstigen Geländes als nicht sehr standfest."

Aber es ist gar nicht nötig, konservativer zu sein als der Gegner, wenn man die Folgen irrationaler Vorstellungen vom Soldatentum am eigenen Leib erfahren möchte. Man kann auch ohne fremde Hilfe unsinnige Verluste produzieren, wie das Beispiel Hermann Görings zeigt. Auch vom Kampfflugzeug hieß es zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch, es habe keinerlei militärischen Nutzen und könne bestenfalls als Mittel der Aufklärung dienen. Als der fliegerische Kampfeinsatz schließlich selbstverständlich geworden war — eine Entwicklung, die in diesem Fall immerhin nur wenige Jahre dauerte —, erwies sich ausgerechnet der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe als letzte Bastion eigenartiger Vorstellungen wenn schon nicht über den Nutzen, so doch über die Einsatzweise des Flugzeugs.

Joachim Fest schreibt in Das Gesicht des Dritten Reiches über Göring: "Tief befangen in seinen romantischen, 'urtümlichen Lebensidealen', stand er allen technischen Überlegungen eher mißtrauisch gegenüber und liebte den Gedanken, daß das 'Rammen' feindlicher Flugzeuge im Grunde 'die würdigste Kampfesweise' sei." Fest zitiert dazu in einer Fußnote den ehemaligen Göring-Mitarbeiter Rudolf Diels: "Göring praktizierte sein urtümliches Lebensideal, indem er sich übte, den Ger zu werfen und mit dem Bogen zu schießen." (Vom Ruf des Unsoldatischen und Feigen, in dem das Bogenschießen lange Zeit gestanden hatte, ahnte Göring vermutlich nichts.) "Durch die allerletzten technischen Banalitäten des Luftkrieges geisterten noch solche Gedanken an eine verlorene Heldenzeit. Im wallenden Mantel auf dem wilden Greifen durch die Lüfte segelnd, hätte er am liebsten mit dem Speer nach dem feindlichen Unhold geworfen ... 'Meine Flieger sind keine Operateure und meine Kampfmaschinen keine Kinos', mit solchen Worten lehnte er einmal die Komplettierung des Führerstandes der Fernbomber um ein Ortungsgerät ab, das seiner Luftwaffe einen Vorsprung gegeben hätte. Daß 'Rammen' die würdigste Kampfesweise sei, machte er seinem Neffen K. H. Göring, der ihm widersprach, so polternd klar, daß dieser wenige Wochen später über Frankreich nach einem Rammversuch abstürzte. Wahrscheinlich klangen ihm noch die harten Scheltworte seines Onkels in den Ohren: 'Ihr seid ja alle Feiglinge'. Der verständige Junge hatte darauf erwidert: 'Wenn Du meinst, Onkel, daß der Kampfflieger nicht 'denken' soll, so können wir auch rammen, ohne Rücksicht auf Verluste. Am Mut dazu fehlt es uns nicht.'"

Ob Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe aus Stahl oder Cruise Missiles — bei jeder Neuerung regen sich dieselben Widerstände mit denselben Begründungen: Es sei dekadent, auf solche Art Krieg zu führen. Und immer wieder führt die Ablehnung neuer Technologien und Strategien unter Berufung auf "Mut", "Willenskraft" und "Heldentum" zu hohen Verlusten.

Unter den Beschäftigungen heutiger Soldaten im Dienste eines Erstweltlandes dürfte kaum eine sein, die einem Spartaner, einem Jakobiten oder auch nur einem Armeeangehörigen des frühen 20. Jahrhunderts als "rechte Tätigkeit für Soldaten" erschienen wäre. Trotzdem hat sich an der Vorstellung vom archaischen Soldatenberuf, zu dem die weichen Geschöpfe der Zivilisation erst erzogen werden müssen, innerhalb der Armeen und in ihrer Außendarstellung nicht viel geändert. Daß es auch anders geht, zeigen diverse Berufe, die mit vergleichbaren Entbehrungen und Risiken und mit Verantwortung für das Leben anderer Menschen einhergehen, aber ohne jeden militärischen Drill erlernt und ausgeübt werden können. In Deutschland zählt dazu etwa der Beruf des Kampfmittelräumers, der als zivile Aus- oder Weiterbildung angeboten wird. Auch bei Feuerwehrleuten verzichtet man im allgemeinen auf eine Selbstdarstellung, nach der Berufseinsteiger durch ein totalitäres Ausbildungssystem zu neuen Menschen geformt werden müssen.

Daß das Militär hier die große Ausnahme darstellt, daß im Soldatenberuf ohne Drill, Entbehrungen und Erziehung zum Gehorsam keine akzeptable Leistung zu erwarten ist und daß die "sich pluralisierenden Wert- und Normvorstellungen der individualisierten Zivilgesellschaft" diese militärische Ausbildung gefährden, ist zumindest unwahrscheinlich. Das Militär ist de facto längst zu einer Verteidigungsbehörde geworden, die in Rekrutierung, Ausbildung und Führung ihrer Mitarbeiter wie jedes andere Unternehmen funktionieren könnte. Aber die Vorstellung, man sei durch harten, unvermeidlichen Drill zum Angehörigen einer archaischen Elite aufgestiegen, die die Dekadenz der restlichen Gesellschaft nicht teilt, wird von Soldaten und Veteranen in Internetforen immer noch mit Wohlgefallen vertreten.

Nun sind die meisten Mitarbeiter dieser Militärbehörde nicht ganztags damit beschäftigt, im Dienste der Friedenssicherung durch den Schlamm zu robben. Der Anteil der eigentlichen Bodentruppen nimmt stetig ab; im Amerikanischen Bürgerkrieg kämpften noch 90 Prozent aller Beteiligten, schon 1914 waren es nur noch 50 Prozent, zwischen 1945 und 1963 sank dieser Anteil weiter von 25 auf 14 Prozent, und heute dürfte er noch niedriger liegen. Natürlich müssen die weit von der Front entfernten Truppenteile nicht unbedingt den allerstrengsten Anforderungen genügen. In der Verfilmung von Robert Harris' Roman Enigma wird ein Mitarbeiter der britischen Kryptoanalysezentrale in Bletchley Park wegen seines schlampigen Äußeren von einem hochrangigen Besucher angehalten und empört gefragt, wo er denn gedient habe. "Nur ein, zwei Tage auf einem Schiff", antwortet der Befragte, immerhin selbst Offizier. "Auf welchem Schiff?" "Also, ich kann mir wirklich nicht jede Kleinigkeit merken, tut mir leid."

Ob es sich um dichterische Freiheit handelt, sei dahingestellt, aber daß die Spezialisten von Bletchley Park, darunter der homosexuelle Kryptoanalytiker Alan Turing, der nicht selten im Schlafanzug auf dem Gelände gesichtet wurde, wesentlich zum Sieg im Zweiten Weltkrieg beigetragen haben, ist unumstritten. Seit es im Krieg nicht mehr primär um das Führen unhandlicher Schlagwerkzeuge geht, muß auch das Militär zweifelhafte und unmilitärische Lebensweisen, schlechte Haltung und spätes Aufstehen seiner Mitarbeiter verkraften.

Es verkraftet sie offenbar ganz gut, und zwar nicht nur auf seinen halbzivilen Außenposten, sondern auch im Einsatz. Daß seit 2000 Schwule und Lesben in der britischen Army dienen, hat sich laut New York Times (21.Mai 2007) als überraschend unproblematisch erwiesen. Die befürchteten Probleme (Schikanen, Zwietracht, Erpressung, mangelnder Zusammenhalt innerhalb der Einheiten oder Beeinträchtigung der militärischen Effizienz) sind, so berichtet das britische Verteidigungsministerium, ausgeblieben. Kritische Stimmen behaupten zwar, Schwule und Lesben würden — derzeit in etwa 25 Ländern — nur deshalb zum Militärdienst zugelassen, weil es insgesamt immer mehr an qualifizierten Freiwilligen fehle. Da die Klage über die abnehmende Qualifikation von Rekruten so alt ist wie die über die Verweichlichung des Militärs (im Ersten Weltkrieg waren ein Viertel der amerikanischen Kriegsteilnehmer funktionale Analphabeten), muß man diese Theorie nicht allzu ernst nehmen. Wahrscheinlicher ist, daß das Militär, wie bisher auch, die sich wandelnden Wertvorstellungen der übrigen Gesellschaft mit einer gewissen Verspätung nachvollzieht.

Dafür spricht, was die New York Times am 23. Mai 2007 über den US-Militäreinsatz im irakischen Mahmudia berichtete: "Große, starke Männer umarmten sich, und die Tränen strömten ihnen übers Gesicht. Noch war unklar, ob der schwerverwundete Soldat durchkommen würde, und wiederholt fielen die Worte 'Ich liebe dich', mit denen die Soldaten herausplatzten, als hätten sie Sergeant Wisniewski gern schon früher davon informiert. Als ein verwundeter Soldat erklärte, es sei jetzt aber genug mit dem 'mushy stuff', erntete er freundschaftlichen Widerspruch. 'Was, darf ich jetzt keinen mehr gern haben?' fragte ein Soldat. 'Ich liebe dich', sagte er. 'Ich darf doch wohl 'Ich liebe dich' sagen, wenn ich das will.'"

Daß das einzelne Menschenleben heute auch im Militär mehr gilt, daß der Soldat Tortellini mit Meeresfrüchten zu essen bekommt und daß man sich bemüht, ihn nicht sinnlos zu verheizen, hat gute demographische Gründe. Erst die industrielle Revolution brachte für die europäischen Staaten sowohl die nötigen Gelder als auch den enormen Bevölkerungszuwachs mit sich, der es möglich machte, riesige Armeen zu mobilisieren und wie im Ersten Weltkrieg den Untergang ganzer Heeresteile billigend in Kauf zu nehmen. In präindustriellen Zeiten galt der einzelne Soldat — so hart man mit ihm umsprang — als wertvolles, weil nur schwer zu ersetzendes Gut, und zu einem wertvollen Gut ist er auch heute wieder geworden. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Ein-Kind-Familien schnell dem Krieg die Unterstützung an der Heimatfront versagen, wenn jenes einzige Kind fällt.

Tatsächlich scheint sich der Krieg an eine Variante des Parkinsonschen Gesetzes zu halten, nach dessen Originalfassung Arbeit sich so lange ausdehnt, bis sie die zu ihrer Erledigung zur Verfügung stehende Zeit ausfüllt. Krieg kostet dann eine Unzahl an Menschenleben, wenn diese Unzahl tatsächlich zur Verfügung steht, weil nur dann die entsprechenden personalintensiven Strategien zum Einsatz kommen. In den USA sank die Zahl der Militärangehörigen in Uniform seit 1945 von 12 Millionen auf heute 1,4 Millionen bei gleichzeitiger Verdoppelung der Gesamtbevölkerung, in Deutschland von 8 Millionen auf etwa 250 000. Der Psychologe Steven Pinker gibt in seinem Essay A History of Violence an, die Zahl der in Kriegen zwischen Staaten Gefallenen sei von über 65 000 pro Jahr in den fünfziger Jahren auf unter 2000 pro Jahr im aktuellen Jahrzehnt gesunken. Zum Vergleich: Allein am 1. Juli 1916 erlitten die Briten Verluste von 60 000 Mann, davon 20 000 Tote.

Der derzeitige Trend zu unbemannten Einheiten ist Teil dieser soldatenschonenden Entwicklung. Harper's Magazine berichtete im Februar 2007 ausführlich über Neuerungen in der militärischen Robotik: "Die Praxis der Kriegsführung hat sich in den letzten sechzig Jahren dramatisch verändert. Seit Vietnam läßt sich die amerikanische Militärmaschinerie von zwei parallelen, einander ergänzenden Trends leiten: Man versucht, Verluste zu vermeiden und setzt in großem Umfang auf Technologie. Durch den Golfkrieg wurde der Glaube bestärkt, daß Technik den Menschen auf dem Schlachtfeld ersetzen kann ... Heute wird jede neue Waffe, die ihren Kaufvertrag wert ist, als 'force multiplier' bezeichnet, was übersetzt 'größerer Schaden bei Einsatz von weniger Menschen' heißt. Bewaffnete Roboter sind die ultimativen 'force multiplier', und alle Teilstreitkräfte haben ihre Ausgaben für unbemannte Systeme erhöht."

Auch diese neue Technologie stößt erwartungsgemäß auf die traditionellen Widerstände. Bob Quinn, ein im Beitrag zitierter Vertreter des Waffenrobotikunternehmens Foster-Miller, faßt die Marktlage zusammen: "Es ist ganz interessant, daß unbemannte Flugzeuge wie der Predator nach Belieben Hellfire-Raketen abschießen können, ohne daß sich dafür weltweit irgend jemand groß interessiert. Aber wenn es um die Bewaffnung von Bodenkampfgeräten geht, dann sind unsere Soldaten, unsere Sicherheitszuständigen, unser Land, unsere Welt noch nicht bereit für autonome Systeme. Ganz im Gegenteil."

Für diese Widerstände gilt sinngemäß, was der britische Militärhistoriker Brian Bond 1965 beschrieb: "Obwohl die Motive womöglich unbewußt waren, können wir Phänomene wie den Kult um das Pferd und die Klingenwaffe heute als letzten, verzweifelten Versuch deuten, der Entpersönlichung des Krieges zu widerstehen."2 Dieser Entpersönlichungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. Tavis Coburn, der Autor des Harper's-Beitrags, befragt Master Sergeant Mike Gomez, der im Dienste der Marines unbemannte Aufklärungsflugzeuge steuert, zu seiner Meinung über autonome, bewaffnete Roboter. Gomez erklärt: "Ich glaube nicht, daß es ganz ohne den Menschen geht. Was ist denn mit allen großen Zivilisationen passiert? Irgendwann hat man alle Krieger wegzivilisiert. Es gibt Schafe, und es gibt Wölfe. Man braucht genug Wölfe, die die Schafe beschützen, sonst kommen fremde Wölfe und holen sich die Schafe."

Mike Gomez' Sorge ist dieselbe, die Samuel Johnson 250 Jahre vor ihm beschäftigt hat. Mittlerweile können wir auf genügend historisches Material zurückblicken, um mit einiger Sicherheit zu sagen: Das Verschwinden einer Kriegerkaste, die zunehmende Zivilisierung der Staatsbürger, kurz: Dekadenz ist nicht das Problem. Die Ablehnung des Dekadenten hingegen kommt das Militär immer wieder teuer zu stehen.

1 John Ellis, The Social History of the Machine Gun. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1975.

2 In: Michael Howard (Hrsg.), The Theory and Practice of War. Bloomington: Indiana University Press 1984.