Kathrin Passig

Neuköllner Alpenglühen

Anfang 2001 fand ich einen Zettel an meiner Tür: "Ich möchte Dich, meine Nachbarin, kennenlernen. Albert." Nebenan war jemand eingezogen, der aber viel früher aufstand als ich, so dass wir uns nie begegneten. Dann kam ich eines Morgens so spät nach Hause, dass ich ihn in der Küche Kaffee kochen sah. Als ich klingelte, stellte sich schnell heraus, dass er mich keineswegs kennen lernen wollte, und schon gar nicht morgens um halb sechs. Ich fand den Zettel wieder, verglich ihn mit den Türschildern und erkannte, dass es sich um den anderen Nachbarn handeln musste, der im Hinterhaus schon vor einem halben Jahr das ehemalige Möbellager bezogen und daraus eine düstere Werkstatt gemacht hatte.

Kurze Zeit später begegneten wir uns von allein. Sein Kampfhund sprang freudig an mir hoch, als ich mein Fahrrad aus dem Hof holen wollte, und der Nachbar trat vor die Tür, um sich zu vergewissern, dass ich nicht eine andere Radfahrerin war, die sich bereits über seinen Hund beklagt hatte. Dann lud er mich zu einem Dosenbier ein. Seine Wohnung sei abgebrannt, seitdem wohne er in seiner Werkstatt. Die Werkstatt war voll großer, für mich identisch aussehender schwarzer Bienenwachsreliefs. Davon rührte auch der süßlich-angebrannte Geruch her, den ich schon öfter nachts im Hausflur wahrgenommen hatte. Auch der Rest der Werkstatt war mit Wachs überzogen; setzte man sich auf einen Stuhl, klebte hinterher der Hosenboden, streichelte man den Hund, bekam man schwarze Hände. Der Nachbar war damals erst sechzig, wie ich jetzt weiß, sah aber älter aus. Er besaß eine Matratze, ein paar Kleidungsstücke, die er auf dem Kühlschrank stapelte, einen Tisch und zwei Stühle.

Ich händigte ihm einen Schlüssel zu meiner Wohnung aus, damit er dort duschen und den Herd benutzen konnte. Als erstes ließ er dort, wie ich am nächsten Tag feststellte, ein Passbild von mir mitgehen. Statt drei waren es nur noch zwei, und er hatte offenbar eine Nagelschere zum Ausschneiden benutzt. Dafür hatte er mir ein paar kahle Zweige in einer aufgeschnittenen, geschwärzten Becks-Dose hinterlassen, festgekeilt mit einem Stück Holz. Darunter lag ein Zettel: "Schau nicht hoch, schlaf ruhig. Bella und ich wachen." Ich schaute hoch, aber da war gar nichts.

Es gefiel mir ganz gut, jetzt einen Nachbarn und einen Hund zu haben, die beide nachts wach waren und nicht viel von mir erwarteten. Der Hund wollte im Hof Sachen apportieren, und der Nachbar wollte herumsitzen und Dosenbier trinken. Er zeigte mir mein Passbild, das weitgehend abgebrannt an der Wand hing. Nach dem ersten Bier fragte er mich, ob ich katholisch sei. Ich sagte, ich sei ausgetreten, aber man könne natürlich gar nicht austreten. Er lachte und sagte, nein, natürlich könne man nicht austreten und schenkte mir ein Goldkettchen mit einem Kreuz, das ihm eine seiner Exfreundinnen theatralisch hingeworfen hatte.

Dann schlug er vor, wegzugehen, und zwar in seine ehemalige Stammkneipe, wo es sicher ein großes Gerede geben werde, wenn er mit einer jungen Frau dort auftauchte. Insbesondere werde sich das zu seiner Exfreundin herumsprechen, der Gedanke gefiel ihm besonders. Es war erst zwei Uhr, also willigte ich ein. Er fragte, ob er etwas mitnehmen solle, um uns zu beschützen, denn dort seien Zuhälter und Verbrecher versammelt. Ich sagte: "Wir haben einen Kampfhund und ein Kreuz, das muss doch reichen", aber er meinte, der Hund sei nutzlos. Es war so, dass der Hund selbst Käfern im Hof lieber aus dem Weg ging. Albert hatte ihn geschenkt bekommen, weil er aus der Art geschlagen war. Wir nahmen ein Taxi zum Platz der Luftbrücke. Während der Fahrt erklärte Albert mir unter allerhand Keuchen und Schmatzen – ich vermutete Asthma oder eine Raucherlunge sowie vielleicht eine schlecht sitzende Prothese –, dass nicht etwa der Hund auf uns aufpassen werde oder gar er auf mich, sondern vielmehr ich auf ihn aufpassen solle, das sei ab und zu mal nötig.

Am Platz der Luftbrücke betraten wir einen kurdischen Imbiss, in dem drei Gestalten in Jogginganzügen am Tresen lehnten. Ein jüngerer Mann saß an einem Tisch und grinste mich komplizenhaft an. Gleich gab es Händel, weil Albert einem der drei verbot, sich zu uns an den Tisch zu setzen. Dann beschwerte sich ein anderer darüber, dass Albert den Kampfhund draußen frei herumlaufen ließ, während wir hier beim Bier saßen, das sei ja wohl keine Art. Als der Hund aber nach zehn Minuten freiwillig zurückkam, waren alle bekehrt und fütterten ihn mit Pommes. Albert zeigte mir nach langem Kramen ein Fläschchen Feuerzeugbenzin, das er doch heimlich zu unserem Schutz eingesteckt hatte, und stellte es auf den Tisch, mir dabei demonstrierend, wie er die Kappe abzureißen und den Inhalt auf etwaige Angreifer zu spritzen sowie anzuzünden gedächte. Die kurdischen Wirte gaben uns, als wir nach einem Bier wieder gingen, eine Tüte mit den letzten Grillhähnchen für den Hund mit. Das Taxi zurück bezahlte ich, dann tranken wir weiter Bier, während der Hund ein von Albert mit mäßiger Sorgfalt entbeintes Grillhähnchen auf dem bienenwachsverkrusteten Boden verzehrte und hinterher alles wieder sauberleckte.

Zum Abschied veranstaltete Albert Alpenglühen für mich, indem er das Feuerzeugbenzin auf einem seiner Bilder verteilte – er hatte vorher mit Bedacht eins ausgewählt, das in einer für mich günstigen Blickrichtung stand –, und es dann anzündete. Das Bild loderte ein paar Sekunden, dann züngelten nur noch kleine Flämmchen. Wegen des Geruchs löschte er schließlich mit dem Hundewassernapf. Ich glaube, Albert hätte sich nicht so angestellt wegen der Putzfrauen und der Fettecke.

Meine Wohnung betrat er nur, wenn ich nicht da war, und nach dem Duschen wischte er den Fußboden mit Klopapier. Er wechselte auch die seit vier Jahren durchgebrannte Glühbirne im Bad, so dass insgesamt alles besser war als vorher. Nur die Nachbarn mochten ihn nicht, weil er Skulpturen aus Sperrmüll, Bienenwachs und Bierdosen auf dem Hof aufstellte. Nachts schrie er manchmal herum, und die Frauenyogaschule im Hinterhaus beklagte sich, der im Hof herumlaufende Kampfhund verstöre ihre Kundinnen. Albert gestand beiläufig, es seien bereits zwei Verfahren wegen Brandstiftung gegen ihn anhängig, deren Ausgang höchst ungewiss sei. Nach und nach lieh er sich meine Socken, Küchenmesser, Töpfe und ein Beil, das einzige Erbstück meiner Großtante.

Eines Tages kam ich nachmittags auf den Hof, um mein Fahrrad zu holen, und fand dort meine Nachbarn versammelt vor. Aus Alberts Fenster quoll schwarzer Rauch. Die Nachbarn füllten einen Wassereimer. Ich wusste, dass Albert auf seiner Kochplatte Wachs erhitzte, und dass man Wachs nicht mit Wasser löschen soll. Ich wusste, dass man die Flammen stattdessen mit einer Decke erstickt. Weil Bellas Hundedecke einmal mir gehört hatte, wusste ich auch, dass sie aus Wolle und daher schwer entflammbar war. Die Nachbarn wussten das alles nicht, aber ich schwieg. Entschlossene Männer gingen hinein und schütteten das Wasser auf das brennende Bienenwachs, das hell aufloderte. Das Fenster zersprang, Feuerwehr und Polizei wurden hinzugezogen. Ich wusste, dass jemand hineingehen und die Kochplatte ausschalten musste, damit man Albert nichts nachweisen konnte. Aber ich nahm mein Fahrrad und ging. Das zerstörte Fenster galt als Beschädigung der Bausubstanz und war Grund zur fristlosen Kündigung.

Weil Albert keine neue Wohnung fand oder keine suchte, stand sein Hausrat kurze Zeit später auf dem Hof. Was kein offensichtlicher Müll war, brachte ich bei mir unter. Weil ich nicht mehr wusste, welches seiner Beile das Tantenbeil war, behielt ich vorsichtshalber alle sieben, denn ich hatte sonst keine Erbstücke und meine Großtante war immerhin damit aus Böhmen geflohen. Einige Wochen später holte Albert in meiner Abwesenheit alles ab und hinterließ seine neue Adresse. Weil er dabei auch meinen letzten Topf, alle Geschirrtücher, das Besteck, eine Hose und meine Kunstbücher – alle beide – mitgenommen hatte, besuchte ich ihn nie. Als ich für diesen Bericht zum ersten Mal bei Google nach ihm suchte, fand ich ein Foto seines Grabes. Er war ein schmutziger alter Mann, ein schlechter Künstler und ein guter Nachbar.