Kathrin Passig

Polarforschung ist kein Keksessen

Süddeutsche Zeitung, Herbst 2006. Rezension der ersten deutschen Übersetzung von Cherry-Garrards "The Worst Journey in the World" (dort unter irgendeinem anderen Titel erschienen).

Als der 24-jährige Apsley Cherry-Garrard 1910 eingeladen wurde, an Scotts Südpolexpedition teilzunehmen, war er wohl das unnützeste Mitglied der Unternehmung: Er hatte in Oxford einige geisteswissenschaftliche Fächer studiert, war stark kurzsichtig und tappte wegen der Kälte meistens ohne Brille durch die Antarktis. Da ist es ein Trost für jeden selbst nicht ganz so nützlichen Geisteswissenschaftler, dass die – wie bei allen Polarexpeditionen größtenteils vorgeschobenen – wissenschaftlichen Ziele sich schon bald als banal erwiesen und der patriotische Plan, die britische Fahne am Südpol aufzupflanzen, an Amundsen scheiterte, so dass Cherry-Garrards zwölf Jahre später erschienene Chronik "The Worst Journey in the World" für die Nachwelt als das eigentliche Ergebnis der Scott-Expedition gelten darf.

Insbesondere Cherry-Garrards Bericht über seine "Winter Journey"ist eine der besten und eindringlichsten Schilderungen des absurden Missverhältnisses von Aufwand und Ergebnis, das nicht nur für die frühe Polarforschung, sondern für einen Großteil aller menschlichen Betätigungen so charakteristisch ist. Zusammen mit Edward "Bill" Wilson und Henry "Birdie" Bowers, die beide im darauffolgenden Sommer auf der eigentlichen Südpolexpedition ums Leben kamen, macht sich Cherry-Garrard in völliger Dunkelheit bei Temperaturen um die -50 Grad zu Fuß auf den Weg nach Cape Crozier, um erstmals Eier des Kaiserpinguins für wissenschaftliche Zwecke zu beschaffen. Über die außerordentlich mühselige Unternehmung, bei der die Zähne in der Kälte splittern und zum Teil kaum mehr als zwei Kilometer am Tag zurückgelegt werden, schreibt Cherry-Garrard: "Die nachfolgenden Wochen waren vergleichsweise glücklich, nicht weil unsere Bedingungen später besser waren – tatsächlich waren sie sehr viel schlechter – sondern weil wir das Gefühl dafür verloren hatten. Ich für meinen Teil war zu einem Punkt des Leidens gekommen, bei dem mich nur mehr interessierte, ob ich ohne viele Schmerzen würde sterben können." Abends dauert es Stunden, die Schlafsäcke aus Rentierfell so weit aufzutauen, dass man hineinschlüpfen kann, Cherry-Garrard verbringt die Nächte schlaflos und gekrümmt vor Zittern, und jeden Morgen gefriert die ungeeignete, nasse Bekleidung beim Verlassen des Zeltes in Sekundenschnelle zu einer steifen Rüstung: "Einmal draußen, hob ich meinen Kopf, um mich umzuschauen – und entdeckte, dass ich ihn nicht mehr bewegen konnte. Meine Kleidung war in der Zeit, die ich so stand, hart gefroren – in kaum fünfzehn Sekunden. Für Stunden musste ich nun in dieser Körperhaltung den Schlitten voranziehen – und von diesem Augenblick an achteten wir darauf, eine ziehende Körperhaltung einzunehmen, bevor wir einfroren." Aber tragische Geschehnisse bergen, insbesondere wenn sie lange zurückliegen und man nur im warmen Bett von ihnen liest, auch immer großes komisches Potential. Eine der denkwürdigsten Passagen der mit Komik oft schlecht ausgestatteten Polarliteratur ist Cherry-Garrards Beschreibung der Übergabe der drei Pinguineier an ein britisches Naturkundemuseum. Die Eier, "für die drei menschliche Leben dreihundertmal am Tag riskiert worden waren und drei menschliche Konstitutionen bis zur äußersten Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit strapaziert worden sind", werden mit der größten Gleichgültigkeit entgegengenommen. Cherry-Garrard wartet störrisch den halben Tag im Vorzimmer, um auch nur eine Quittung zu erhalten, und bei einem späteren Besuch streiten die Museumswärter die Existenz der Eier rundheraus ab.

Vielleicht ist es der schiere Umfang des 600-Seiten-Buchs, der deutsche Verleger bisher davon abgehalten hat, eine deutsche Übersetzung dieses Bestsellers herauszubringen – auf Englisch sind derzeit immerhin mehr als zehn Ausgaben erhältlich. Jetzt hat sich der Berliner Semele Verlag erbarmt und 84 Jahre nach Erscheinen des Originals "Die schlimmste Reise der Welt – Die Antarktis Expedition 1910-1913" veröffentlicht. Allerdings lässt schon der erste Satz der Übersetzung von Simon Michelet nichts Gutes hoffen: "Polarforschung ist die zugleich sauberste und isolierteste Art, eine schlechte Zeit zu haben, die je ersonnen worden ist." Und so geht es leider 650 Seiten lang weiter. "Die Erkundung der Antarktis ist selten so schlecht, wie man es sich vorstellt – oder wie es klingt." Michelets Übersetzung ist dagegen leider tatsächlich so schlecht, wie es klingt. Nicht nur wird hier Cherry-Garrards eleganter, trockener Stil in ein holperndes Halbdeutsch übertragen, auch inhaltlich bleiben weite Passagen mit ihren oft schlicht ins Gegenteil verkehrten Sätzen für den deutschen Leser so rätselhaft, wie sie für Michelet gewesen sein müssen, der sonst – wenn überhaupt – aus dem Französischen zu übersetzen scheint. Man kann als Übersetzer schon mal ein paar Minuten Recherchearbeit investieren, um herauszufinden, dass mit "degrees frost" weder Fahrenheit noch Celsius, sondern Reaumur gemeint sind, dass Polarforscher nicht wie Damenkränzchen von "Biskuits" oder "Keksen" leben, sondern von Zwieback, dass antarktische "crevasses" keine "Erdspalten" und "pressure" keine "Erdfalten" sind und dass es einen Unterschied zwischen "Frostbeulen" und Erfrierungen gibt. Den des Englischen mächtigen Lesern sei dringend geraten, sich an die – zudem wesentlich preiswertere – Originalfassung zu halten. Alle anderen werden sich bis auf Weiteres leider durch Michelets Übersetzung kämpfen müssen wie Cherry-Garrard durch die antarktischen "Erdfalten", denn bis zu einer Neuübersetzung vergehen vermutlich weitere 84 Jahre.