Ritalin - Häufig gestellte Fragen

Ich bekomme Ritalin verschrieben, weil ich Narkoleptikerin bin. Ritalin wird nur auf Betäubungsmittelrezept abgegeben, was bedeutet, dass man kaum jemanden findet, der es sich auf illegalem Weg beschafft und bereit ist, darüber im Interview Auskunft zu geben. Ich habe in "Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin" ein Kapitel über die Vor- und Nachteile von Ritalin als Mittel gegen die Prokrastination untergebracht und werde vermutlich deshalb regelmäßig dazu befragt, wenn wieder irgendwer über "Gehirndoping" berichten wollte. Weil ich mich schriftlich etwas kohärenter ausdrücken kann als mündlich, und weil ich mir so künftige Interviewarbeit zu sparen hoffe, hier eine Zusammenfassung:

Wie lange nimmst du schon Ritalin?

Über zehn Jahre.

Wie wirkt Ritalin?

Es macht mich wach und hält mich auch bei langweiligen Beschäftigungen wie Meetings oder beim Autofahren zuverlässig wach. Außerdem ist es Selbstdisziplin und Arbeitseifer in Tablettenform. Dinge, die ich seit Monaten vor mir herschiebe, erledigen sich unter dem Einfluss von Ritalin wie von allein. Das betrifft auch Kleinigkeiten; ohne Ritalin falle ich tagelang über dieselbe mitten in der Wohnung abgestellte Kiste und denke mir dabei nur "Sollte man mal wegräumen". Mit Ritalin schaffe ich die Kiste sofort und ohne nachzudenken weg, und noch drei andere dazu.

Wegen einer Nachfrage im Kommentar: Ich muss nicht oft Auto fahren, in Meetings oder in Vorträgen sitzen. Meistens nehme ich Ritalin nicht, weil ich dringend wach bleiben müsste (mein Büro hat ein Schlafsofa, das auch von den Kollegen gern genutzt wird), sondern zur Erzeugung von Tatendrang. Vielleicht bin ich einfach ein wenig kistenwegräumfreudiger Mensch, vielleicht hat mein geringer Trieb, langweilige Dinge zu tun, aber auch mit der Narkolepsie zu tun, das weiß ich nicht. Mir scheint, dass es so eine Art Müdigkeits-Kontinuum gibt, an dessen einem Ende Schläfrigkeit und unweggeräumte Kisten stehen, am anderen Ende Wachheit und Tatendrang.

Wirkt das bei allen so?

Nein. Im Zusammenhang mit ADHS heißt es (Quelle vergessen; reiche ich nach, wenn ich sie wiederfinde), dass 30 Prozent aller Patienten von Ritalin nicht profitieren. Und meine Bekannten mit Ritalinerfahrung reagieren sehr unterschiedlich auf sehr unterschiedliche Dosierungen. In meinem Kopf geht es schon nach einer halben Tablette (5 mg) zu wie in einem Bienenstock, andere Leute können fünf Stück nehmen, sich hinlegen und einschlafen. 

Ich habe gelesen, dass das vielleicht nur ein Placeboeffekt ist.

Ich wüsste gern, wo die Fragenden das immer lesen. Ich habe bisher keine Veröffentlichung gefunden, die die Wirkung von Ritalin auf einen Placeboeffekt zurückführt. Sagen wir so: Wenn eine Chemikalie sich einen gewissen Ruf als Partydroge erarbeitet, dann ist sie in der Regel nicht einfach durch eine Zuckerpille zu ersetzen. 

Musstest du im Laufe der Jahre die Dosis erhöhen?

Nein.

Nimmst du täglich Ritalin?

Nein. Viel zu anstrengend. (Das liegt nicht an der Arbeit, die macht unter Ritalin Spaß. Aber ich fühle mich währenddessen den ganzen Tag, wie man sich im Kino in dem Moment fühlt, in dem das Alien-Monster aus den Kulissen springt.)

Hast du keine Angst, Ritalin könnte langfristig irgendwas mit dem Gehirn anrichten?

Ritalin gibt es in Deutschland seit 1954. Bis 1971 war das Medikament rezeptfrei. Wenn es Löcher ins Gehirn fressen würde, hätte man das mittlerweile vermutlich gemerkt. Die derzeitige "Aber man weiß doch gar nicht!"-Debatte bezieht sich auf Schulkinder, die viel häufiger als früher ADHS diagnostiziert und Ritalin verschrieben bekommen. Dass Ritalin aufs heranwachsende Gehirn andere Auswirkungen hat als aufs Gehirn Erwachsener, ist theoretisch denkbar; meines Wissens hat man aber auch hier bisher nichts Eindeutiges herausgefunden.

(Update: Noch mal bei PubMed nachgesehen, Stand der Forschung scheint tatsächlich zu sein "die einen sagen so, die anderen sagen so, aber von Lochfraß ist uns jedenfalls bisher nichts bekannt".)

Was sagst Du zu den Nebenwirkungen von Ritalin? Also Schlaflosigkeit, Depression, Appetitlosigkeit und was man nicht alles hört.

Klarstellung wegen Kommentarnachfrage: Alle hier beschriebenen Nebenwirkungen stellen sich während der paar Stunden ein, in denen das Ritalin wirkt, und verschwinden danach wieder. Es handelt sich nicht um einen dauerhaften Gehirnumbau; zumindest weiß ich davon nichts (und die Forschungsliteratur auch nicht).

Schlaflosigkeit ist ja in meinem Fall nicht direkt eine Nebenwirkung, sondern eigentlich das, was ich erreichen will :) Aber, ja, Ritalin ist kein Zuckerschlecken. Hauptnachteile: Es macht mich noch viel ungeduldiger als sonst. Es erzeugt eine anlasslose Nervosität, die der Kopf dann durch irgendwas zu begründen versucht ("Rucksack mit Notebook drin! Könnte geklaut werden! Besser alle 30 Sekunden hinschauen!"), und das, obwohl ich ansonsten ein recht sorgloser Mensch bin. Bei Veranstaltungen wie Meetings oder Podiumsdiskussionen, an denen ich ohne Ritalin gar nicht teilnehmen könnte, fällt es mir sehr schwer, mich in der Diskussion zurückzuhalten, anderen nicht ständig ins Wort zu fallen und generell einfach mal die Klappe zu halten.

In Kombination mit Alkohol, wie es leider gerade bei offiziellen Anlässen (Lesung oder Podiumsdiskussion, danach mit dem Veranstalter ins Restaurant) vorkommt, liege ich danach schlaflos wach, denke zwanghaft über alles nach, was ich im Laufe des Abends Falsches gesagt habe, und halte mein Leben für verpfuscht. Inzwischen stört mich das nicht mehr so, weil ich es als Ritalinnebenwirkung erkenne und einordnen kann. (Update: Einige Jahre später wurde mir klar, dass es sich dabei gar nicht um eine Nebenwirkung von Ritalin, sondern um eine Nebenwirkung von Lesungen oder Podiumsdiskussionen handelt.) Schlaflosigkeit ist zum Glück kein Problem, wenn man weder feste Arbeitszeiten noch Kinder hat. Man schläft dann halt, wenn es geht, und ist wach, wenn es nicht geht.

Ein anderer Satz Nebenwirkungen ist in diesem Kommentar beschrieben.

Es heißt ja, in Deutschland betrieben Millionen "Gehirndoping". Gibt es in deinem Freundeskreis andere Menschen, die regelmäßig Ritalin oder ähnliche Medikamente einnehmen?

Es gibt diese Millionen nicht. Das Gerücht geht auf den Gesundheitsreport 2009 der DAK zurück, der in den Medien fast immer falsch wiedergegeben wurde, reichlich Beispiele bei Google. "Zwei Millionen gesunde Menschen greifen laut der Krankenkasse DAK zu aufputschenden oder beruhigenden Pillen – für bessere Leistungen im Job" ist ein typisches Beispiel von Zeit Online. Liest man die Studie, dann steht darin Folgendes: 17% der 3.017 für die Studie befragten Personen haben "Medikamente zur Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit oder psychischen Befindlichkeit bereits eingenommen", allerdings zu drei Vierteln auf Anraten des Arztes wegen spezifischer Beschwerden (und diese Beschwerden sind mehrheitlich Depressionen und Angst). Nur knapp 5% der Befragten "geben an, dass sie die Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit einnehmen bzw. eingenommen haben". Auch hier meinen allerdings wiederum 87% dieser Gruppe keineswegs Aufputschmittel, sondern Antidepressiva und angstlösende Mittel.

Es sind letztlich ungefähr 18 von 3.017 Befragten, die ohne Rezept Mittel gegen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen einnehmen, also etwa ein halbes Prozent. Bei 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland wären das etwa 200.000 Personen. Und da ein BTM-Rezept weder leicht zu fälschen ist noch Ritalin oder Modafinil leicht im Internet zu bekommen sind, gehe ich davon aus, dass die Mehrheit dieser 200.000 Personen sich einfach hin und wieder in der Apotheke Koffeintabletten oder Quatsch mit Ginseng holt (nach dem genauen Medikament war nicht gefragt worden.) Methylphenidat (also Ritalin) auf Rezept bekamen übrigens 0,04 Prozent der DAK-Versicherten, "Zahlen, die die Hypothese bezüglich verordnetem 'Doping am Arbeitsplatz' nicht gerade stützen", heißt es in der Studie.

Ist das nicht ungerecht? Manche arbeiten dank Medikamenten konzentrierter und schneller, andere müssen ohne zurechtkommen?

  • Bei Narkoleptikern und Menschen mit ADHS, den beiden Gruppen, die Ritalin verschrieben bekommen, geht man davon aus, dass sie erst durch das Medikament überhaupt eine ähnliche Arbeitsfähigkeit wie Gesunde erreichen. Ob das stimmt, kann ich mangels Vergleich nicht beurteilen, ich stecke halt nur in meinem Körper drin, und dass ich keine Narkolepsie hatte, ist schon zu lange her.
  • Vieles im Leben ist ungerecht. Jeder Zentimeter zusätzliche Körpergröße erhöht das Einkommen. Intelligenz ist ungleichmäßig verteilt. Kinder reicher Eltern studieren häufiger als Kinder armer Eltern. Eine Dosis des generischen Ritalinäquivalents, das ich einnehme, kostet 17 Cent. Davon nehme ich manchmal zwei am Tag, das sind 34 Cent. Mir kommt das wie ein für alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen leicht (abgesehen von der derzeitigen Gesetzeslage, dazu weiter unten mehr) und billig zu erlangender Vorteil vor.

Wird dadurch nicht die Latte für alle höher gelegt? Und dann ist es eben nicht mehr die Entscheidung jedes Einzelnen, ob er ein Medikament einnehmen will?

  • Beispiel Brillen: Heute wird Sehschärfe vorausgesetzt und ist Standard, und man braucht sie auch viel dringender als früher, weil es mehr Kleingedrucktes, Handydisplays etc. gibt. Hat deshalb jemand argumentiert "Brillen dürfen gar nicht eingeführt werden, das hängt die Latte der Sehschärfe für alle höher"?
  • Der Einwand ist so beliebt, weil es sich um eine Substanz handelt. Stellen wir uns vor, die Rede wäre von einer Fähigkeit, zum Beispiel dem Umgang mit Computern oder der Beherrschung der englischen Sprache. Gleich wirkt das Argument weniger einleuchtend. Warum?

Macht Ritalin zu einer unkreativen Arbeitsameise? Kann man unter seinem Einfluss nur noch die Papiere für die Steuer sortieren?

Ich habe den Eindruck, unter dem Einfluss von Ritalin immer ganz gute Ideen zu haben. Natürlich ist Skepsis geboten, wenn man unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen gute Ideen zu haben glaubt. Aber zumindest stelle ich nicht am nächsten Tag fest, dass der gestern geschriebene brillante Text in Wirklichkeit schlampig recherchierter Schrott ist (beziehungsweise natürlich doch, aber das geht mir ohne Ritalin genauso). Außerdem hilft Ritalin dabei, gute Ideen nicht nur zu haben, sondern sie wenigstens manchmal auch umzusetzen.

Leistungsgesellschaft, etc., etc. ...

  • Tatsächlich ist die Arbeit unter Ritalin ja weniger stressig und dauert kürzer.
  • Ich halte es für einen Vorteil, mir Selbstdisziplin und Fleiß eben nicht auf die herkömmliche Weise durch Totalumbau der Persönlichkeit aneignen zu müssen, sondern sie bei Bedarf aus einer Schachtel zu nehmen.
  • Die Alternative zu Ritalin und ähnlichen Medikamenten ist ja nicht etwa die Abschaffung der Leistungsgesellschaft. Wer den Gebrauch solcher Mittel verbieten will, der sagt nichts anderes als: Die Leistungsgesellschaft ist eine Tatsache, an der wir nichts ändern werden; wir enthalten dir aber auch die Mittel vor, die dir dabei helfen könnten, leichter mit den Anforderungen dieser Gesellschaft zurechtzukommen.

Findest du, Ritalin sollte rezeptfrei abgegeben werden?

Ja. In einer besseren Welt sollte man nicht nur zu Tchibo gehen und dort beliebig viele Kilo Kaffee kaufen, sondern auch wesentlich mehr Chemikalien rezeptfrei in der Apotheke erwerben können. Neben den gängigen Drogenfreigabe-Argumenten, die Felix Neumann viel klüger und ausführlicher zusammengefasst hat, als ich es könnte, bitte auch diesen interessanten Neuroskeptic-Beitrag über Commercialization vs. Medicalization beachten.

Hast du Erfahrung mit Modafinil?

Fast keine. Modafinil beeinträchtigt die Wirkung der Pille. Bitte jemand anderen fragen.

Kind, musst du dich denn die ganze Zeit öffentlich über Ritalin äußern? Kannst du nicht lieber über Literatur reden oder so? Die Nachbarin hat dich neulich wieder im Fernsehen gesehen und gar nicht verstanden, wieso du Werbung für die Pharmaindustrie machst.

Einer muss es halt machen, Mutter. Ritalin hat eine absurd schlechte Presse. Ich finde diese "Es ist ein Medikament! Es macht was mit dem Kopf! Also ist es böse!"-Haltung irrational und falsch. Und ich glaube, die Ritalinfrage ist Teil einer größeren Diskussion um das, was wir mit unseren Köpfen machen können, dürfen und sollen.

 

An mehr Fragen kann ich mich gerade nicht erinnern, werde diesen Beitrag aber bei Bedarf erweitern und ergänzen. Vielleicht hat ja auch noch jemand Fragen in den Kommentaren, auf die die Journalisten, mit denen ich bisher zu tun hatte, noch gar nicht gekommen sind.

Zum Weiterlesen:

 

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  • May 18 2010, 7:28 AM
    mspro (Twitter) responded:
    kann ich einfach so zum arzt gehen, und behaupten ich hätte ads und er würde mir dann… hey, tolle kommentarfunktion! ich kann hier ja per twitter kommentieren!
  • May 18 2010, 7:31 AM
    roman responded:
    bleibt noch die frage wie und wo man das zeug am besten bezieht...
  • May 18 2010, 7:34 AM
    Clemens Gleich responded:
    Ja, eine Frage hätte ich noch aus meiner Erfahrung mit ADS-Kindern, von denen ein großer Anteil regelmäßig Ritalin einnahm: Schon mal den Doppelblind-Placebo-Test gemacht? Danach haben wir nämlich bei einigen Kindern das Medikament in Absprache mit Eltern und Arzt möglichst abgesetzt oder zumindest stark reduziert.

    Ansonsten: bin für verschreibungsfrei. Wahrscheinlich würden es dann weniger Eltern es Kindern geben, die einfach ein bisschen mehr Action brauchen, weil wenns nicht verschreibungspflichtig ist, kanns ja so wirksam nicht sein.

  • May 18 2010, 7:35 AM
    Christoph Salzig responded:
    Sollte Ritalin dann nicht in den Medizinkoffer eines jeden Agenturchefs gehören? ;-)
  • May 18 2010, 7:56 AM
    Swen Wacker responded:
    Aus eigener Anschauung weiß ich, dass Doppelblind-Test beim verantwortungsvollen Ärzten zum Standard gehören, um überhaupt erst den Nutzen der Gabe (bei Kindern) festzustellen. Aus eigener Erfahrung kann ich zudem noch beisteuern, dass bei erwachsenen ADSlern solche Test zwingend sind, um die Verträglichkeit mit anderen Medikamenten auszutesten, besonders bei gleichzeitiger Einnahme von Anti-Depressiva sind, so ist meine Erfahrung, Wechsselwirkungen möglich. Danke, Kathrin, für den sachlichen Artikel.
  • May 18 2010, 7:59 AM
    Kathrin Passig responded:
    @Clemens Gleich: Ich weiß so gut wie nichts über Ritalin bei ADHS oder bei Kindern. Ich weiß aber aus über zehn Jahren unbehandelter Narkolepsie, dass die Welt besser dran ist, wenn ich ihr unter dem Einfluss von Ritalin und nicht unter dem von *irgendwas anderem* auf der Landstraße entgegenkomme, ob das jetzt Zuckerpillen oder acht Espressi sind. Mal abgesehen davon, dass ich ohne Ritalin sowieso nicht hinters Steuer darf.
  • May 18 2010, 8:01 AM
    Ute Weber responded:
    Danke Kathrin, das hat gut getan.
    Und bitte jetzt keine Diskussion über ADS als Problemchen von Kindern die "nur ein bisschen mehr Action" brauchen. Ein ADS-Kind leidet. Es hat nur das Pech, kein Diabetes zu haben, sonst würde es das Medikament, das ihm ein "normales" Leben ermöglicht, ohne Probleme bekommen.
  • May 18 2010, 8:05 AM
    Mela Eckenfels responded:
    @mspro

    Ein schlechter Arzt sagt: "Sie haben mir nun eine Viertelstunde zugehört, sie können kein ADS haben." oder "Sie sind viel zu alt. Aber sie sind garantiert depressiv. Nehmen sie mal Antidepressiva."

    (Damit bekommt man zwar noch weniger zustande als ohne, aber es fehlt immerhin sogar der Antrieb sich deswegen umzubringen.)

    Ein desinteressierter Arzt sagt: "Ganz klar, sie haben ADS. Aber das zahlt die Kasse nicht und die nehmen mich am Ende in Regress. Hier nehmen sie Antidepressiva, dann sieht wenigstens alles nicht so schlimm aus wie es ist." oder "Na gut, wenn sie meinen. Hier ist das Rezept. Holen sie sich das nächste in einem Monat ab."

    Ein guter Arzt dagegen, sieht sich deine Lebensgeschichte an, achtet auf die typischen Umwege und Brüche einer ADS-Biographie und erkennt Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Burnout als das was sie sind: Symptome unbehandelten ADS. Danach stellt er eine fundierte Diagnose - die im Allgemeinen 10 Stunden in Anspruch nimmt. Danach betreut er dich, während du dich an die für dich sinnvolle Dosis herantastest und probiert 2-10 Darreichungsformen (oder alternative Stimulanzien wie Amphetaminsaft) mit dir durch, bis du den Eindruck hast die bestmögliche Medikation zu erhalten.

    Bezahlen darfst du Ritalin in jeglicher Darreichungsform als Erwachsener aus eigener Tasche. Wenn du also finanziell eher klamm bist, schaff dir lieber eine ordentliche Depression an. Damit gehört man zwar nicht mehr zur produktiven Bevölkerung, hat aber zumindest Anspruch auf eine Behandlung.

  • May 18 2010, 8:08 AM
    Jakob M. responded:
    Was sagst Du zu den Nebenwirkungen von Ritalin? Also Schlaflosigkeit, Depression, Appetitlosigkeit und was man nicht alles hört.

    Wie ist deine Erfahrung damit?

  • May 18 2010, 8:14 AM
    Clemens Gleich responded:
    Ute, es geht hier um eine Medikation, die bei manchen keinerlei Wirkung gezeigt hat. Es geht nicht um eine Diskussion, was ADS ist und wer darunter wie leidet. Ein Medikament, das den Placebo-Test nicht besteht, sollte man sofern im Umfeld gut möglich absetzen, schon um Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu vermeiden. Dass gern aus Bequemlichkeit einem Kind ADS attestiert wird und viele Eltern auch noch froh über so eine Erziehungsausrede sind, weiß ich aus Erfahrung.
  • May 18 2010, 8:14 AM
    anne responded:
    mein lebensthema. danke fuer den artikel!
  • May 18 2010, 8:16 AM
    pascal responded:
    Könnte wer eine ähnliche FAQ zu Modafinil empfehlen? Alles was ich über das Zeug weiß stammt aus einem Votrag vom 26C3 (iirc), in dem es hieß in USA bekäme man es schon, wenn man behauptet einen Interkontinentalflug zu machen, und um Jetlag zu vermeiden 24h wachbleiben zu müssen.
  • May 18 2010, 8:19 AM
    Clemens Gleich responded:
    @roman: Geh zum Psychiater, da ist die Chance auf Verschreibung meiner Erfahrung nach am größten.
  • May 18 2010, 9:07 AM
    roman responded:
    @Clemens Gleich danke.
  • May 18 2010, 9:11 AM
    Ute Weber responded:
    @Clemens

    Jeder gute Arzt (und über die Idioten brauchen wir nicht zu diskutieren) überprüft, ob die Medikation wirksam ist. Es gehört bei Ritalin zum Standard, da es einen bekannt hohen Anteil von Non-Respondern gibt.

    Deine Erfahrungen in allen Ehren, ich ärgere mich über deine Bemerkungen, die das übliche Vorurteil zu ADHS bei Kindern transportieren (schlecht erzogene Kinder, erziehungsfaule Eltern):

    1. Wer "nur ein bisschen mehr Action braucht", hat kein ADHS und wird von einem guten Arzt niemals medikamentiert werden.

    2. Die Arztpraxen, Therapieeinrichtungen und die Uniklinik, mit denen ich zu tun hatte, erleben in der Mehrzahl verantwortungsbewusste Eltern.

    Darüber wird aber nicht so gerne auf RTL2 berichtet, ist ja langweilig. Schlechte Erziehung ist schlechte Erziehung. ADHS ist ADHS. Hat nichts miteinander zu tun. Als ein Bericht über die ADHS-Behandlung in der Uniklinik gedreht wurde, war es fast unmöglich Eltern zu finden, die dabei mitwirken wollten. Aus Angst, in der Öffenltichkeit als erziehungsunfähige Rabeneltern, die ihr Kind mit Drogen vollstopfen, dazustehen. So ist nämlich die öffentliche Meinung. Leider.

  • May 18 2010, 9:17 AM
    Mela Eckenfels responded:
    @Jakob M Ich bekomme Ritalin (in meinem Fall Medikinet Retard) nicht so lange wie Kathrin (6 Jahre, statt 10) will aber dennoch antworten. Nebenwirkungen hängen wie bei jedem Medikament von der Person ab. Bei einem Mittel das direkt auf die Hirnchemie wirkt, eben von der spezifischen Hirnchemie. Deswegen gelten die folgenden Aussagen nur für mich.

    Schlaflosigkeit:
    Ritalin hat meinen Schlaf reguliert. Ich kann deutlich besser einschlafen als vor der Behandlung. Nehme ich Ritalin ein, wenn ich übermüdet bin, wirkt es sogar eher wie eine Schlaftablette.

    Depressionen:
    Seit ich adäquat behandelt werde, habe ich die längste Zeit frei von Depressionen in meinem bisherigen Leben erlebt. Ich bezweifle nicht, dass die begleitende Verhaltenstherapie viel zur Stabilisierung beigetragen hat, aber den positiven Effekt einer guten Medikation darf man nicht verachten.
    Ritalin hellt meine Stimmung eher auf, als sie zu drücken.

    Appetitlosigkeit:
    Ja, kurz nach der Einnahme verspürt man keinen Appetit. Ritalin wird aber relativ schnell verstoffwechselt. Ich bemerke das Ende der Wirkdauer meist daran, dass mein Magen zu knurren beginnt. Ritalin eignet sich auch nicht als Abnehmhilfe. Man hat 2-5 Stunden keinen Hunger/Appetit, aber danach ist alles wieder normal.

    Meine tatsächlich beobachteten Nebenwirkungen:
    Der sogenannte Rebound. Was man sich über den Tag an Aufmerksamkeit durch die Ritalin-Einnahme erkämpft, bekommt man nach der Wirkdauer um so heftiger abgezogen. Je näher ich mich an meine erlaubte Maximal-Tagesdosis herangearbeitet habe um so unfähiger bin ich nach Abflauen der Wirkung einen Gedanken auch nur halbwegs zu Ende zu führen. Gefühlt mutiert man nach dem Abflauen der Wirkung zu einem denkunfähigen Stück Gemüse. Wie stark sich der Rebound auswirkt, hängt an der Tagesform die bei Frauen auch stark vom hormonellen Zyklus beeinflusst wird.

    Dazu hat jeder eine Dosisschwelle, aber der sich die nützlichen und unangenehmen Wirkungen beginnen zu überkreuzen. Dass die persönliche Schwelle erreicht ist, erkennen viele an verspannten Kiefermuskeln. Dosiert man dann höher, gesellen sich prächtige Kopfschmerzen dazu.

    Dass Ritalin oft als Droge angegeben wird, kann ich genau aus dem Grund auch nicht nachvollziehen. Ich weiss nicht wie hoch man dosieren müsste um einen Rausch zu erfahren. Den man dann wegen brutaler Kopfschmerzen ohnehin nicht mehr mitbekäme ;-)

    Natürlich kann Ritalin, wie jedes Medikament, auch noch andere Nebenwirkungen entfalten. Es ist keine gute Idee Ritalin bei bekannten Herzproblemen zu nehmen und vor der Verschreibung ist ein EEG vorgeschrieben um eine Epilepsieneigung auszuschließen.

  • May 18 2010, 9:44 AM
    Clemens Gleich responded:
    @Ute

    Du schreibst: "...hat kein ADHS und wird von einem guten Arzt niemals medikamentiert werden." Das könnte stimmen. Es gibt jedoch nur sehr wenige gute Ärzte, dazu müssen sie ja noch keine Idioten sein. Ich schau kein Fernsehen, meine Erfahrungen stammen aus der Zeit, als ich in einer KiTa für schwer erziehbare Kinder gearbeitet habe. Es gab dort einen hohen Anteil an Verschreibungen, die man zumindest kritisch diskutieren hätte sollen.

    Ich bin nicht gegen das Medikament, ich bin nur gegen amerikanische Verhältnisse, in denen die Vertrauensperson "Arzt" sowas sofort jedem in den blauen Himmel verschreibt. Dann lieber wie Kathrin vorschlägt keine Rezeptpflicht und somit die Wirkungserwartung niedriger halten.

  • May 18 2010, 10:07 AM
    Felix Fischer liked this post.
  • May 18 2010, 10:14 AM
    Martin Schreiber responded:
    Ein guter und wichtiger Artikel.

    Aber das Brillen-Argument kann ich nicht ganz nachvollziehen. Gleicht die Brille doch bei einem "Kranken" eine Schwäche aus, vergleichbar des Ritalins bei deiner Narkolepsie, verhilft auf der anderen Seite eine Brille aber einem "Gesunden" nicht zu einen Vorteil. Anders beim Ritalin, das verhilft, quasi als Nebenwirkung, dem gesunden Menschen zu einem Vorteil, den er in unserer Gesellschaft praktisch durch bessere Arbeitsleistung direkt in Geld umsetzen kann. (Wobei ja auch da jeder unterschiedlich auf das Medikament reagiert.)
    Und die Frage ist in so einem Fall natürlich, muss sich in Zukunft jeder die Pille für 17 Cent leisten, will er seine Position im Beruf halten.

    Ganz richtig ist aber bemerkt, dass im Moment sowieso schon jeder seinen Kaffeevorrat pflegen muss und die Energydrinks in der Tasche trägt, will er einen produktiven Tag erleben.

  • May 18 2010, 10:27 AM
    Kathrin Passig responded:
    @postnerd Ich bleibe bei meinem Brillenvergleich. Er bezieht sich auf eine Zeit, in der man mit, sagen wir, 2 Dioptrien plus oder minus noch als völlig gesund gegolten hätte. Eine Brille hätte einen zwar in die Lage versetzt, jetzt noch viel Kleingedruckteres aus weiterer Entfernung zu lesen, aber da es dazu wenig Anlass gab, gab es auch keinen Grund, hier eine ausgleichsbedürftige Schwäche zu diagnostizieren. Heute ist das anders.

    Auf Ritalin übersetzt bedeutet das: Im Vergleich zu vor 50, 100 oder 500 Jahren wird schon heute eine höhere Produktivität und ausgeprägtere Fähigkeit vorausgesetzt, sich selbst zu bestimmten Tätigkeiten anzuhalten. Dieser Standard wird sich voraussichtlich noch weiter verschieben, und mit ihm eben auch die Grenze zwischen "gesund" und "krank".

  • May 18 2010, 1:40 PM
    jens responded:
    Danke für diesen Beitrag.
  • May 18 2010, 2:25 PM
    Linutoy responded:
    Danke für den Text, Kathrin. Und Mela dir für deine Kommentare in Bezug auf ADS.

    Hinzuzufügen gibt es da wenig. Vielleicht noch, dass Ritalin überhaupt erst einmal ermöglicht die Papiere für die Steuer zu sortieren... Das mit der Dringlichkeit der Abgabe der Steuererklärung steht dann im "Dinge geregelt kriegen". (Die macht sich nämlich irgendwann fast von alleine und ohne große Überwindung, wirklich!)

  • May 19 2010, 2:30 AM
    ulf_der_freak responded:
    Meine Liebste hat ADHS. Seit einigen Monaten bekommt sie Ritalin und kann sich in der Tat NORMAL konzentrieren wie andere. Nicht besser oder so. EInfach normal. Ich nehme diverse Antidepressiva- alle diese Medis stellen nur den Zustand her, den Normalos ohnehin schon haben.
  • May 19 2010, 3:17 AM
    pfandtasse (Twitter) responded:
    die "smart drugs"-debatte hat gerade erst begonnen. kathrin, danke für den offenen artikel über ritalin.
  • May 19 2010, 7:25 AM
    Charlie responded:
    Wäre ohne Ritalin die Narkolepsie besser geworden? Bei einem schlimmen Fall würde ich es aber auch nicht ausprobieren.
  • May 19 2010, 7:45 AM
    Martin Schreiber responded:
    (postnerd)@Kathrin: Aber ist der Unterschied zwischen Brille und Ritalin nicht eben doch, dass zwar beides dem "Kranken" hilft, dem "Gesunden" aber die Brille nichts bringt, das Ritalin aber schon?

    Also der sehschwache Grafiker seinen Nachteil mithilfe der Brille ausgleicht, der sehstarke aber durch eine Brille keinen Vorteil gegenüber seinen Kollegen erzielt. Während der Texter mit ADHS endlich normal arbeiten kann, der Kollege ohne Beschwerden aber sein Pensum durch Ritalin erhöht. (Wenn man einmal in dieser alten Art über Produktivität spricht.)

    Entschuldige, falls ich nerve, ich weiß auch noch nicht wirklich, ob mein Unterschied bei der Entscheidung pro oder contra smart drugs den entscheidenden Unterschied machen würde, glaube aber, dass der Aspekt des Zwangs auf meine Mitmenschen bei Einnahme zur Leistungsförderung nicht unwichtig in der Diskussion ist.

    Aus meiner privaten Position heraus würde ich hingegen meiner persönlichen Leistungssteigerung auch nichts negatives abgewinnen können. (Außer vielleicht, dass ich plötzlich Dinge organisiert bekomme, auf die ich vorher – ja nicht ganz ohne Grund, da sie eben langweilig waren – keine Lust hatte.)

  • May 19 2010, 7:45 AM
    Martin Schreiber liked this post.
  • May 19 2010, 8:17 AM
    Clemens Gleich responded:
    @postnerd: Versuch doch mal, als normale Person durch Ritalin die
    Produktivität zu boosten. Bei den meisten funzt das nämlich nicht. > -----Ursprüngliche Nachricht-----
    > Von:
  • May 19 2010, 8:26 AM
    Martin Schreiber responded:
    @Clemens: Habe ich ja oben schon angemerkt, dass Ritalin bei jedem anders wirkt. Bei meiner Frage ist aber relativ egal, wie das Produkt heißt. Dann muss mein Arbeitskollege eben nicht Ritalin nehmen, nur weil ich es nehme, sondern besorgt sich Modafinil, weil es bei ihm besser wirkt. Für die Diskussion macht das glaube ich keinen Unterschied.
  • May 19 2010, 10:51 AM
    Kathrin Passig responded:
    Ok, ich versuch's noch mal (und werde die Brillenstelle oben umformulieren, sobald ich verstanden habe, was so missverständlich ist):

    Das Brillenbeispiel spielt *früher*, sagen wir vor 200 Jahren. Natürlich gab es auch damals Menschen mit Adleraugen, so wie es heute Menschen gibt, die ganz ohne Tabletten wach und konzentriert sind. "Gesund" bedeutete damals "sieht alles, was man normalerweise so sehen muss", also irgendwas zwischen -2 und +2 Dioptrien (Werte von mir erfunden). Dem "Gesunden" von damals hätte eine Brille technisch gesehen also sehr wohl genutzt, so wie Ritalin vielen Gesunden von heute nutzen würde.

  • May 19 2010, 11:56 AM
    Martin Schreiber responded:
    Danke Kathrin.

    Meine Überlegung war, dass die Brille in deinem Beispiel die Adleraugen nicht noch besser sehen lassen würde, wohingegen smart drugs auch die Super-Konzentrierten noch einmal nach vorne bringen. Und dann vielleicht soweit nach vorn, dass andere, um mitzuhalten, eben auch dazu greifen müssen. (Die Begriffe "gesund" und "krank" waren in diesem Fall vielleicht nicht besonders gut gewählt von mir).

    Aber wahrscheinlich liege ich auch nur dem unbewussten Vorurteil auf, dass es sich eben bei der Brille um etwas Mechanisches handelt und Ritalin, wie Du oben schreibst, eine Substanz ist, die ich einwerfe. Und komme deshalb auf den ersten Blick zu einer anderen Einschätzung. Denn wie schon gesagt, deine Grundaussage kann ich nur unterstreichen.

  • May 19 2010, 12:28 PM
    Kathrin Passig responded:
    Ich bin bisher stillschweigend davon ausgegangen, dass smart drugs den ohnehin schon Super-Konzentrierten nicht weiterhelfen würden. Mehr als konzentrieren, dachte ich, kann man sich ja wohl nicht. Leider kenne ich niemanden ohne Arbeitsstörungen, an dem man das ausprobieren könnte. Aber du hast recht, es ist eine unbegründete Annahme, und eventuell müssen wir doch noch das große Fass der Parallelen zum Sportdoping aufmachen.
  • May 19 2010, 12:40 PM
    Clemens Gleich responded:
    Ich hätte zwei Fälle normaler Konzentrationsfähigkeit anzubieten, bei denen Ritalin keine weiteren Vorteile brachte. Zwei ist halt nicht statistisch relevant. Die Diskussion ist eh müßig, solange andere ihre übererregten Nerven mit Nikotin beruhigen oder wasweißich Betelnuss kauen. Der Schwarzmarkt verkauft jedenfalls eher Amphetamine (Speed) statt -Derivate (Ritalin). Ich unterstelle da einen Grund.
  • May 19 2010, 12:49 PM
    Clemens Gleich responded:
    @Martin: Es gibt keine Chancengleichheit, weil es keine Gleichheit gibt. Menschen sind anders als Menschen. Marketingleute ernähren sich praktisch von Koks. Ist das fair? Sie haben ihre eigenen Probleme damit. Es wurde und wird immer und überall viel probiert, um durch Mittelchen die Leistungsfähigkeit zu verbessern, sehr wenig davon hat so wenig schlechte Seiten, dass es einen langfristigen Vorteil verschafft.

    Sei froh, wenn die chemische Balance bei Dir halbwegs stimmt. Als ich mal Probleme damit hatte, wollte ich mich irgendwann umbringen, weils so schlimm wurde. Und Narkolepsie ist ziemlich scheiße.

  • May 20 2010, 7:22 AM
    Maximilian responded:
    @Kathrin

    Eine Brille hat keine oder so gut wie keine Nebenwirkungen. Das kann man von Ritalin (genauso wie von Antidepressiva und Neuroleptika) nicht behaupten. Es gibt unzählige Nebenwirkungen. Manche Leute haben nur wenige bzw. eher harmlose Nebenwirkungen, bei anderen ist es schon gar nicht mehr harmlos. Bei leichtfertiger und unsachgemäßer Dosierung (wie bei einer Legalisierung vermehrt zu erwarten) steigt diese Gefahr erheblich. Zudem gibt es wie bei den meisten Psychopharmaka auch viele potentielle Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.

    Es ist deshalb etwas völlig anderes von einer Kurzsichtigen Person zu fordern, dass sie eine Brille trägt, als ihr Psychopharmaka aufzudrängen.

    Wenn es wirklich stimmt dass Ritalin oft auch gesunden Menschen erheblich hilft (wie ich von zwei Erfahrungsberichten gehört hatte), und Medikamente wie Ritalin frei verkäuflich wären, dann würde es den faktischen Zwang zur einnahme für viele Personengruppen zweifellos geben. Ich erinnere nur an den Numerus Clausus an Unis. Um einen der begrenzten Studienplätze zu bekommen, werden die meisten Schüler gezwungen sein zu dopen, um den Mindesnotenschnitt zu erreichen. Da die anderen auch dopen kann die Sache eine verdammt gefährliche Eigendynamik entwickeln. Und wären sind nicht nur Schüler, sondern auch die allermeisten Studenten und viele Berufstätige betroffen.

    Neuroenhancement für alle wäre sicher eine tolle Sache und ich bin einer, der sich so etwas schon oft gewünscht hat. Doch die indirekten Auswirkungen auf Andere wären erheblich. Ein Aspekt, der übrigens auch in dem neulich von dir gebuzzten Prozac-Artikel völlig unterschätzt wurde. Zumal Antidepressiva noch häufiger teilweise gefährliche Nebenwirkungen haben als Ritalin.

  • May 20 2010, 10:31 AM
    Kathrin Passig responded:
    "Doch wäre ein solcher Nötigungsdruck zur Verwendung von NEPs [Neuro-Enhancement-Präparate, KP] nicht schon per se ein Grund für deren ethische oder gar rechtliche Unzulässigkeit. Unsere Gesellschaft mutet uns schon jetzt erhebliche Risiken und den entsprechenden Druck zur Anpassung zu. Entscheidend ist, ob die Höhe des Risikos für den Einzelnen noch als »sozialadäquat« beurteilt werden kann. So schafft etwa der Autoverkehr mit seinen zahlreichen Opfern auch ein »erlaubtes Risiko«, obwohl selbst für Personen, die sich sorgfaltsgemäß verhalten, schädliche Folgen nicht auszuschließen, ja nach der Statistik sogar sehr wahrscheinlich sind."

    (Aus dem jetzt auch oben im Beitrag verlinkten Gehirn&Geist-Memorandum, https://www.wissenschaft-online.de/sixcms/media.php/976/Gehirn_und_Geist_Memo... - der ganze Reader ist sehr lesenswert.)

  • May 21 2010, 12:39 AM
    Stephan Schleim responded:
    Hallo Frau Passig,

    schön, dass Sie so offen über Ihre Erfahrungen mit Stimulanzien schreiben. Ich finde es allerdings schwierig, Ihre Situation genau zu verstehen -- ich kann natürlich nachvollziehen, dass Narkolepsie die Lebensqualität stark einschränkt und finde es gut, dass für Narkoleptiker Medikamente verfügbar sind. Dann schreiben Sie aber beispielsweise von der Kiste, die Sie ohne Ritalin nicht wegräumen können, und mir ist nicht klar: Liegt das daran, dass Sie sonst zu müde sind? Oder ist es schlicht ein Motivationsproblem?

    Ritalin und andere Stimulanzien werden manchmal auch als "sekundäre" oder "indirekte Enhancer" bezeichnet, weil sie eben nicht das Denken selbst "verbessern", sondern vor allem die Motivation steigern. Aus diesem Grund werden sie wohl auch manchmal Depressiven verschrieben.

    Ihre Anmerkung zum Placebo finde ich allerdings nicht korrekt. Natürlich ist nicht alles, was Ritalin und andere Substanzen bewirken, ein Placebo-Effekt. Aufgrund der starken subjektiven Effekte, die viele Stimulanzien bei vielen Menschen haben, lässt sich der Placebo-Effekt im Experiment aber nur schwer kontrollieren, weil die meisten eben wissen, dass sie den Wirkstoff und keine Zuckerpille erhalten haben. In mindestens zwei Studien mit gesunden Versuchspersonen hielt sich die Ritalin-Gruppe zwar für besser, war es schließlich aber gar nicht. Das könnte erklären, warum sich in bestimmten Kreisen die Meinung hält, Ritalin würde Gesunden tatsächlich helfen, während zumindest die experimentellen Daten diesen Punkt nicht deutlich stützen.

    Ihre Bemerkung zu Nebenwirkungen finde ich allerdings bedenklich. Sie schreiben, wenn Ritalin "Löcher ins Gehirn" fressen würde, hätte man das längst herausfinden müssen. Es ist sehr schwer, langsam fortschreitende Veränderungen im menschlichen Gehirn zu fassen und experimentell aus offensichtlichen ethischen Gründen nicht möglich. Manche neurodegenerative Erkrankungen kann man daher erst mit Sicherheit nach dem Tod diagnostizieren, wenn ein Pathologe direkt ins Gehirn schauen kann.

    Sie schreiben doch selbst von psychischen Nebenwirkungen wie gesteigerter Impulsivität, Nervosität oder Zwangsgedanken. Denken Sie denn, diese Veränderungen stehen nicht im Zusammenhang mit Veränderungen in der Arbeitsweise des Gehirns? Übrigens muss seit einigen Jahren wieder vermehrt vor den psychischen und körperlichen Nebenwirkungen von Ritalin gewarnt werden -- die lange Liste dürfte Ihnen ja bekannt sein. Angesichts dieser Liste halte ich Ihren Vorschlag, Ritalin rezeptfrei abzugeben, für sehr bedenklich.

    Die Diskussion um Gerechtigkeit ist natürlich sehr schwierig. Meines Erachtens ziehen Sie -- aber nicht nur Sie, sondern leider auch manche Berufsethiker -- aus der Tatsache, dass vieles im Leben nicht gerecht ist, gerade die falschen Schlüsse. Die Frage muss sein, wie sich die Gesellschaft wieder gerechter machen lässt. Dass man angesichts bestehenden Unrechts die Diskussion abschmettert, löst das Problem aber gar nicht. Warum ich denke, dass eine Verbreitung pharmakologischer Substanzen in der Gesellschaft Gerechtigkeitsprobleme nicht entschärft, sondern im Gegensatz verstärkt, habe ich an anderer stelle ausführlicher zu beschreiben versucht, als es hier möglich ist.

    "Wer den Gebrauch solcher Mittel verbieten will, der sagt nichts anderes als: Die Leistungsgesellschaft ist eine Tatsache, an der wir nichts ändern werden;"

    Es gibt leider solche Positionen in der akademischen Diskussion, ja. Ich halte aber sowohl das starke Leistungsdenken für ein Problem, als auch das Anbieten pharmakologischer Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Daher falle ich also aus Ihrem Raster und stimmt Ihre Verallgemeinerung so nicht.

    Mir scheint es übrigens widersprüchlich, dass Sie einerseits schreiben, die "Arbeit unter Ritalin" sei tatsächlich "ja weniger stressig", vorher aber behaupten, sie würden nicht jeden Tag Ritalin nehmen, denn das sei zu anstrengend. Wie ist das miteinander vereinbar?

    Nochmals danke für Ihren ausführlichen Beitrag, den ich mit großem Interesse gelesen habe.

    Viele Grüße

    Stephan Schleim

  • May 21 2010, 12:49 AM
    Stephan Schleim responded:
    P.S. Ich sehe erst jetzt, dass Sie inzwischen auch auf das "Memorandum" in Gehirn&Geist verweisen. Gerade mit diesem Abschnitt, den Sie zitieren, bin ich überhaupt nicht zufrieden. Die Experten verstecken eine Entscheidung hier hinter dem Wort "sozialadäquat" -- es wäre ein wichtiger Beitrag gewesen, in diesem mehrjährigen vom BMBF (also Steuergeldern) geförderten Projekt eine Antwort auf die Frage zu geben, wie viel pharmakologische Lösungen für soziale Probleme denn noch "sozialadäquat" sind.

    Vielleicht möchten Sie auf die Online-Diskussion mit einigen begleitenden Beiträgen verweisen, die damals zusammen mit dem "Memorandum" veröffentlicht wurden und die man ihm meines Erachtens dringend zur Seite stellen sollte.

  • May 24 2010, 3:21 AM
    Kathrin Passig responded:
    Lieber Herr Schleim, danke für die Nachfragen, ich habe oben im Text einige Ergänzungen und Klarstellungen eingebaut. Ich möchte aber nicht in meinem Beitrag die gesamte Debatte wiedergeben und alle Standpunkte darstellen, das ist andernorts bereits ausführlicher und besser geschehen, als ich es könnte. Ich glaube, aus dem Beitrag geht klar genug hervor, dass es sich um meine persönlichen Erfahrungen und meine private Meinung handelt.
  • May 24 2010, 5:20 AM
    Vladimir responded:
    Hallo Frau Passig,

    ich nehme auch wegen Narkolepsie seit ca 8 Jahren nach Vigil, Concerta etc wieder Ritalin und bin mittlerweile bei der max. Dosis von 60mg/Tag angekommen. Ich bin sehr erstaunt das du so eine konstante dosis hast, auch ist es fuer mich nahe zu unvorstellbar einen Tag ohne Ritalin zu ueberleben, weil da kann ich gleich im bett bleiben.

  • May 27 2010, 11:09 PM
    driveby-dandy responded:
    wenn's geht, bitte den kommentar von christian entfernen. dafür ist dieser eintrag ja vermutlich nicht gedacht.
  • May 28 2010, 8:14 AM
    Kathrin Passig responded:
    @driveby-dandy: Entfernt.