Kathrin Passig

Wortwoselungen

Zusammen mit Sascha Lobo, Beitrag für "Uns fehlen die Worte", erschienen bei dtv im November 2009. Ich war Mitglied der Wortauswahljury für den Wettbewerb, von dem das Buch handelt, hatte aber bei der Zusage verdrängt oder gar nicht erst erfahren, dass man auch noch einen langen Begründungsbeitrag schreiben musste. Langes Hadern folgte, bis Sascha mir zu Hilfe kam (und ich ihm in einem komplizierten, mehrtextigen Tauschgeschäft).

Eigentlich darf man großes Zutrauen in die Fähigkeit der Sprache haben, neue Wortnischen schneller zu besiedeln, als die Natur eine frisch entstandene Vulkaninsel oder ein Lebensmittel im Kühlschrank mit einem grünen Pelz überziehen kann. Wenn für einen bestimmten Sachverhalt ein Wort gebraucht wird, entsteht auch eines, da lässt sich die Sprache nicht lange bitten. Die Wortgenese spielt sich mittlerweile vorwiegend in der heißen schwefligen Ursuppe Internet ab - schon allein, weil dort jeden Tag in hoher Zahl Phänomene, Prozesse, Funktionen auftauchen, die es vorher einfach nicht gab und die nun still, aber bestimmt durch ihre schiere Existenz eine Benennung fordern. Häufig handelt es sich dabei um ganz normale englische oder semienglische Wörter, die nebenberuflich im Deutschen dafür sorgen, dass den Anglizismenkritikern die Klageanlässe nicht ausgehen. Ab und zu entsteht aber auch ein funkelnd schöner Bastard wie das eineiige Verbenzwillingspaar "googlen" und "googeln". Der Firmenname Google ist eine Verballhornung des Wortes Googol, das 1938 von dem amerikanischen Mathematiker Edward Kasner publiziert wurde. Kasner brauchte einen Namen für eine sehr große Zahl, eine Eins mit einhundert Nullen. Berechtigte Hoffnung in die Ausdenklichkeit junger Menschen setzend, fragte er seinen neunjährigen Neffen. Der schlug den Namen Googol vor und prägte so über Bande die Namenslandschaft des Internet, noch bevor es überhaupt erfunden war.

Im Internet kann man auch gleich nachsehen, ob Wörter, die man sich gerade ausgedacht hat, zum Beispiel "Bruttowortschöpfung" oder "Ausdenklichkeit", tatsächlich neu sind (sie waren es zumindest am 30.4.2009) oder ob man soeben ein Wort nur coerfunden hat. Das passiert auch dem geübten oder wenigstens ambitionierten Wortneuschöpfer häufig. Viele Wörter sind einfach schon erfunden, liegen aber unbenutzt in dunklen Ecken des Internets herum. Unseriösen Schätzungen zufolge ist der passive Wortschatz des Internets über einhundert Mal größer als der aktive. Hier horcht der Neologist auf: gilt ein neues Wort als erfunden, wenn es das erste Mal niedergeschrieben oder ausgesprochen worden ist? Oder erst, wenn es sich durchgesetzt hat? Einiges spricht dafür, die Verbreitung eines neuen Worts als Kriterium für seine tatsächliche Vorhändnis mit einzubeziehen. Letztlich ist ein Wort ein Werkzeug, das funktionieren muss, seine Tooltauglichkeit kann es allein im täglichen Gebrauch beweisen. Ein unbenutztes Wort ist wie ein unbenutzter Fallschirm: man weiß einfach noch nicht, ob es seinen einzigen Zweck je wird erfüllen können.

Je deutlicher die sprachliche Notwendigkeit für ein Wort auf der Hand liegt, um so schwerer ist es, den vielfältigen Ansprüchen an neue Wörter gerecht zu werden. Das beste Beispiel dafür ist das allgemeinplatzoide Pendant zu "satt" im Getränkebereich. Spätestens seit 1975 suchen die Menschen einen Namen für das Gefühl, nichts mehr trinken zu wollen. Damals gab es in der pardon-Beilage "Welt im Spiegel" einen fiktiven Herrn, der seinen Namen Schmöll genau dafür hergeben wollte. "Danke, keine Fassbrause mehr für mich, ich bin schmöll", ein Kelch ist an uns vorübergegangen. Auch die deutsche Adaption von Douglas Adams' Buch "The Meaning of Liff" hat sich mit dem Vorschlag "stulln" nicht durchsetzen können. Der am häufigsten genannte Begriff "sitt" war zwar 1999 Gewinner eines entsprechenden Wettbewerbs der Dudenredaktion und des Teeexporteurs Lipton. Aber ein Wort, das wegen der starken Anlehnung an den großen Bruder "satt" wirkt wie seine eigene Parodie, hat geringe Chancen auf Durchsetze. Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob die derart fruchtlose Suche nach einem Sattäquivalent eventuell einen handfesten Grund hat — und das Wort gar nicht gebraucht wird. Oder noch nicht einmal existiert, weil man schließlich noch stets ein zusätzliches Gläschen trinken könnte. Vielleicht sträubt sich die kluge Realität gegen die Existenz eines sittartigen Wortes, weil die Gastronomie der Welt zu einem nicht geringen Teil davon abhängt, dass die Menschen sich mangels Begriff nicht vergegenwärtigen können, dass sie längst nicht mehr weitertrinken möchten. Wer also unbedingt für die Pleite tausender Gastwirte verantwortlich sein möchte, sollte ruhig weiter suchen nach sittigen Worten. (Dass mehrere skandinavische Sprachen über ein Wort verfügen, das übersetzt "undurstig" bedeutet, spricht übrigens nicht gegen diese These, sondern hat eher damit zu tun, dass die Skandinavier aus alkoholsteuerbedingten Kostengründen hin und wieder tatsächlich das Trinken einstellen müssen.)

Zu vermuten ist, dass die Entstehung eines neuen Wortes eine Lücke schließt, die vorher nicht so recht benannt, aber diffus fühlbar war. Leider würde das auch bedeuten, dass ein Wortentwicklungswettbewerb, der konkrete Lücken definiert, scheitern muss; auf die gleiche Art, wie man bei der Wohnungseinrichtung doch stets für alle Räume Lampen findet außer für den Raum, für den man dringend eine sucht. Viel zu künstlich gedrechselt wirken die Vorschläge oft, und den Versuch, ein Wortmöbel präzise einzupassen, bezahlt man teuer mit dem Verlust jeder Nützlichkeit. Obwohl also jährlich etwa eintausend neue Worte entstehen, die es immerhin in den wenigstens früher mal in Zweifelsfällen maßgeblich gewesen seienden Duden schaffen, ist bis heute kein einziges Wort aus einem Wettbewerb dabei (Quelle: wohlwollende Schätzung). Null von tausend ist - man muss es entschönt sagen - eine miserable Quote.

Und doch erfüllen solche Wortbewerbe einen Sinn. Die Suche nach einem Wort, dessen Fehlen bisher nicht weiter gefehlt hat, gleicht der Suche nach dem Schlüssel dort, wo es am hellsten ist. Es handelt sich um eine Übung für den Ernstfall, niemand erwartet, dass bei einem Wettbewerb ein wirklich neues Wort entstehen wird, ist es ja auch noch nie — aber die Teilnehmer werden blickgeschult in der Erkennung echter neuer Wörter. Wortwettbewerbe bereiten das linguistische Immunsystem wie eine Heuschnupfen-Desensibilisierungstherapie auf den Umgang mit neuen Wörtern in freier Wildbahn vor und schützen so vor Bastiansickness und dem häufigen Wolf-Schneider-Syndrom.

Diese Wortübungen im Nichtschwimmerbecken der Sprache bringen durchaus charmante Begriffsbabies hervor, allesamt nicht überleblich, aber vielleicht gerade deshalb besonders liebenswert. Es ist nicht verwerflich, sich diesen Wortembryos in ihrer Unzulänglichkeit zu nähern und also eine Mischung aus Spracheugenik, Wortdarwinismus und Ungeborene-Leichen-Fledderei zu betreiben. Aus 34 Milliarden Einheiten befruchteten Froschlaichs entstehen schließlich auch nur wenige hundert Kaulquappen und am Ende ein halber Frosch. Ähnlich ist es mit neuen Wörtern; die Spracheugenik ist eine der erbarmungslosesten in der gesamten Evolution. Tausende Wörter müssen sterben, damit ein einzelnes neues leben kann. So verwandeln sich die Gründe für die Erfolglosigkeit eines neuen Wortes in greifbare Erkenntnis. Das Ziel ist, beim nächsten Wortwettbewerb besser zu scheitern als vorher.

"Der häufig vergebliche Versuch, sich an einen Traum zu erinnern" beschreibt eine Situation, die die meisten Menschen kennen. Sie tritt auf, wenn man vergeblich versucht, sich an einen Traum zu erinnern. Klaus Schirrich hat dafür "Traumfahnden" vorgeschlagen, ein eigentlich geschmeidiges Wort von leider etwas zu hoher Negervorhüttizität. Das von Günter Schütz und Jessica Pauls synchronvorgeschlagene "Traumstochern", Lutz Patitzens "Traumgrübeln" und Vera Huberts "Traumbohren" sind Umschreibungen, die solides Erklärwerk verrichten, aber man ahnt, dass sie den vergeblichen Versuch, sich an einen Traum zu erinnern, weiter komplizieren werden durch den vergeblichen Versuch, sich an die genaue Zusammensetzung des dazugehörigen Wortes zu erinnern, bis am Ende doch nur ein verwirrtes "traumdingsen" übrigbleibt.

Peter Pfeiffers "Abtraum" enthält eine Menge von dem Stoff, aus dem neue Worte hergestellt werden. Dem Lob muss der Vorwurf folgen, dem gierigen Wortspielgott zwei zu große Öpfer gebracht zu haben, nämlich Sinn und Verständlichkeit. Das beste neu ersonnene Wort in dieser Rubrik ist Christine Hartmanns "träumeln", es liest sich, als sei es schon immer da gewesen und hat gute Chancen, in Zukunft häufig verwendet zu werden. Leider ganz sicher nicht mit der angestrebten Bedeutung. Vielmehr dürfte sich der Begriff Träumeln irgendwo zwischen dem Tagtraum und der noch nicht entdeckten psychischen Störung des Stakkatotraumverhaltens einpendeln. Der häufig vergebliche Versuch, sich an einen Traum zu erinnern, bleibt ein vergeblicher Versuch, ein Wort zu finden.

Nicht ohne Mut, Witz und Mutterwitz ist ein Wort zu erfinden, das den "völlig logischen Ort, an den man Dinge legt, die man nicht oft braucht und den man sofort vergisst" bezeichnet. Das schöne Spannungsfeld dieser Kategorie zwischen "völlig logisch", also leicht nachvollziehbar, und dem sofortigen Vergessen, das ein Nichtwiederauffinden impliziert, kann nur mit einem Knall oder zumindest Knällchen aufgelöst werden. Der Vorschlag "Schwundort" von Marcus Böse schafft diesen Sparspagat, auch Günter Schützens "Trugdepot" und Jan Geguschens "Fehllager" wirken zukunftsträchtig. Henning Krols "Blindort" könnte es weit, sehr weit bringen - auch wenn es das Wort bereits gibt, im Bergbau bezeichnet Blindort etwas Sackgassiges. Alle Vorschläge aber kranken an mangelnder Eindeutigkeit. Wie unendlich viele Interpretationen und Bedeutungsvarianten von "Schwundort" fallen einem in drei, vier Minuten ein? Diese Wörter sind wie Schrotschüsse, die zwar das fragliche Tier erlegen, aber auch zwölf andere in der näheren Umgebung sowie drei zufällig anwesende Bäume.

Ein neues Wort für "etwas partout nicht finden können" ist erfolgreicher, aber nicht erfolgreich gesucht worden. "Zersuchen" von Peter Finsterseifer klingt wie alle Verben mit der Vorsilbe zer- zunächst hervorragend. Es steckt soviel in zer-! Zerstören, zerteilen, zerfallen, zer- gibt noch jedem Verb einen interessant destruktiven Drall. Aber ach, zersuchen ist beim zweiten Hinsehen bereits vollgestopft mit herkömmlicher Bedeutung, wer hätte nicht diverse alte Notizbücher und -blöcke im Schreibtisch, die alle hundertmal durch- und damit zersucht sind.

Den Vorschlag "Woseln" von Jessica Pauls muss man als Glücksfall bezeichnen. Ein elegantes Wort, viskos wie heißes Öl in der Teflonpfanne, so nahtlos fügt es sich in den bestehenden Sprachschatz ein. Erst auf den letzten Metern - leider! - muss der Wortbedeuter ernüchtert feststellen, dass Woseln das bessere, weil durch die Wusel-Konnotation sprunghaftere Suchen ist, also den Prozess selbst beschreibt und eben nicht das negative Ergebnis des Prozesses. Überdeutlich wird das beim flugs gebildeten Probesatz: "Er woselt seinen Schlüssel".

"Unfindbar" von Irmela Lappenbusch dagegen wirkt durch den wunderbaren Namen seiner Schöpferin ausreichend interessant, zerplodiert aber bereits nach oberflächlicher Prüfung - denn das Wort existiert bereits in der Langversion als "unauffindbar", und Kurzversionen sind keine neuen Wörter, wie aus einer Eidechse ja auch nicht gleich eine neue Art wird, nur weil ihr mal der Schwanz abfällt. Schade, dass es von Eigennamen abgeleiteten Wörtern immer ein wenig an der selbstständigen Überlebensfähigkeit zu fehlen scheint, wenn man sie vom journalistischen Tropf nimmt - man vergleiche die ungeliebten Geschöpfe "bachmeiern", "fringsen", "riestern" und "hartzen". Denn wie schön wäre es, für "etwas partout nicht finden können" das neue Verb "lappenbuschen" zu benutzen? Sehr schön wäre es.

Aber bei allem Misstrauen gegen wettbewerbsgeborene Wörter: Einige Einsendungen waren im Spiel, die keine vorher umschriebene Lücke stopfen und vielleicht gerade deshalb ein glänzendes Fell und ebensolche Zukunftsaussichten aufweisen. Von Anna und Wilma Berger stammt das Wort "sapsen" für das Ausrichten eines nicht ganz gerade liegenden Kartenstapels. Was hat man sich nur bisher beim wortlosen Sapsen gedacht? Es muss sich geradezu wie Nichtstun angefühlt haben. Ein Dreisternevorzug des neuen Wortes ist seine Vielseitigkeit, denn natürlich beschreibt es neben dem Ausrichten von Kartenstapeln auch das Zurechtrücken des Bierglases auf dem Deckel und das anschließende korrekte Positionieren des Deckels auf dem Tischdeckenmuster. Auch als Ersatz für das bisherige umständliche "im Blocksatz formatieren" könnte es sich eignen: "Soll ich den Text noch sapsen oder reicht Flattersatz?". Wir prophezeien den Sapstätigkeiten eine große Zukunft im klinischen Zwangsstörungsbereich wie im Alltag.

Bastian van Velthovens Ausdruck "jemanden überkönnen" bedeutet "etwas schneller machen können als jemand anders". Das ist im Ansatz hervorragend, denn eine Sprache kann nie genügend präzise Spezialausdrücke haben. Wo kämen wir hin, wenn im Baumarkt Strangfalzziegel, Hohlfalzziegel und Doppelmuldenfalzziegel achtlos ins selbe Regal gesteckt würden? Zwei leichte Schönheitsfehler hat das Überkönnen allerdings: Zum einen ist unklar, ob die Betonung auf dem "über" oder auf dem "können" liegt. Zum anderen müsste sich die Dudenredaktion auf Jahre hinaus mit der Frage befassen, was wohl korrekter ist: "ich überkann jemanden" oder "ich kann jemanden über". Da es mit den vorhandenen Wörtern bereits ein Myriadon solcher Probleme gibt, müssen wir vorerst einen Einbürgerungsstopp für neue Zweifelsfälle der deutschen Sprache anordnen.

Heinz Burger schlägt das Wort "Wetterverschwendung" für die manchmal ungleiche Wetterverteilung zwischen Tag und Nacht vor. Das Wort mag keine Zukunft im praktischen Einsatz haben, obwohl es sicher schön wäre, im Wetterbericht hin und wieder von "im Westen tagsüber klar, am Alpenrand Wetterverschwendung" zu hören. Aber eine kleine Nische in der Partytalkbranche wird es sicher besetzen können. "Na toll, den ganzen Tag Regen, und jetzt ist es sternklar", werden bezaubernde, aber vokabulär herausgeforderte Partygäste äußern. Woraufhin von Heinz Burger gebildete Umstehende diese Gelegenheit zu ihrem Vorteil nutzen können, indem sie unverzüglich mit "Dafür gibt es übrigens ein Wort, nämlich Wetterverschwendung" ein Gespräch einleiten. Zum Beispiel eines über fehlende Wörter.