Kathrin Passig

Zukunft ohne Zeitung (taz, ca. September 2007)

Wo man hinsieht, wird das Verschwinden der Zeitung mit Erleichterung begrüßt. Im Nachhinein ist es schwer zu verstehen, wie ein Medium derart lange überdauern konnte, dessen Nachrichten den Leser mit bis zu 24 Stunden Verspätung erreichten, in dem Fehler nach der Veröffentlichung nicht mehr zu korrigieren waren und dem es an jedem sinnvollen Feedbackkanal mangelte. Zeitungsabonnements zogen kaum mehr zu bewältigende Altpapier-Entsorgungsprobleme nach sich, und das außerordentlich kostspielige Herstellungs- und Vertriebssystem führte dazu, dass sich auch heterogene Lesergruppen - insbesondere in ländlichen Gegenden - notgedrungen mit ein und demselben Zeitungsangebot begnügen mussten. Schon bald wird man nachfolgenden Generationen nur noch mit Mühe vermitteln können, worin der Erfolg der Zeitung bei all ihren Problemen begründet lag: nämlich darin, dass das Medium nun einmal bis zum Auftauchen des Laptops das einzige war, das beim Frühstück von allein aufgeklappt blieb und so dem Lesenden beide Hände zum Essen frei ließ.

Bei aller Euphorie wird häufig übersehen, dass viele Randgruppen nach wie vor auf Zeitungen angewiesen sind. So klagt etwa die Erpresser- und Kidnapperlobby über das Verschwinden ihrer Arbeitsmittel. Gerade Erpresser sind häufig finanziell zu schlecht gestellt, um die zur Ausübung ihrer Tätigkeit notwendigen alten Zeitungen zu Liebhaberpreisen im Antiquariat zu erwerben. Nachdem auch die spezialisierten Wortausschneidemagazine der letzten Jahre, "Cut & Post" und "R-Press", wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektive eingestellt wurden, herrscht Ratlosigkeit in der Branche.

Auch unter Messies ist die Stimmung gedrückt, waren Zeitungen doch aufgrund ihrer guten Stapelbarkeit das beliebteste Material zum lückenlosen Ausfüllen der Mietsache. Leere Konservendosen und Pfandflaschen gelten allgemein als zweitrangiger Ersatz. In einer Umfrage gaben lediglich 28 Prozent der befragten Messies an, vorgesorgt und sich mit ausreichend Zeitungen für ein ganzes Leben eingedeckt zu haben. 54 Prozent fanden ihre Sammlung unzureichend und wünschten sich weitere Zeitungen. Immerhin 15 Prozent freuten sich allerdings darauf, "endlich mal die ganzen alten Zeitungen gründlich zu studieren", wie sie es sich "schon seit nach dem Krieg vorgenommen" hatten. Der tägliche Zustrom neuen Zeitungsmaterials wurde von ihnen eher als Belastung wahrgenommen.

Gänzlich ungelöst sind viele kleinere Probleme: Liegt die Blütezeit des Pappmaschee in der Kunst unwiderruflich hinter uns? Müssen Wanderstiefel in Ermangelung geeigneten Ausstopfmaterials jetzt für immer nass bleiben? Können Geschirrkisten bei Umzügen wirklich ohne Qualitätsverlust mit Steinen gepolstert werden? Und droht nach dem Wegfall der probatesten Mückenwaffe eine Rückkehr der Malaria nach Mitteleuropa? Wir stehen an der Schwelle zu einer besseren, zeitungsloseren Zeit, aber wer da glaubt, der Übergang gehe ohne Verluste an Lebensqualität einher, der möge erst einmal versuchen, seine Fensterscheiben mit einem RSS-Feed zu polieren.